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    Das Mädchen mit der Nadel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das Mädchen mit der Nadel

    Schmerzhaft schönes Schauspielerinnenkino

    Von Ulf Lepelmeier

    Das Mädchen mit der Nadel“ ist ein verstörendes Drama, das die harte Realität von Frauen am Existenzminimum gegen Ende des Ersten Weltkriegs sowie ihren Kampf um Selbstbestimmung in einer Welt der zerstörten Träume schildert. Nach seiner Weltpremiere im Wettbewerb von Cannes ist die von Magnus von Horn („Sweat“) inszenierte, albtraumhafte Geschichte über menschliche Abgründe inzwischen Dänemarks offizieller Beitrag für den Besten internationalen Film bei den Oscars 2025. Zugleich können sich die herausragenden Hauptdarstellerinnen, Victoria Carmen Sonne und Trine Dyrholm, jeweils Hoffnungen auf eine Auszeichnung bei den European Film Awards machen. Basierend auf einem der bekanntesten Kriminalfälle Dänemarks, lassen die packenden Schwarz-Weiß-Bilder eine düstere Zeit Europas auf eindringliche Weise auf der Leinwand lebendig werden.

    Im Jahr 1919 schlägt sich Karoline (Victoria Carmen Sonne) allein in Kopenhagen durch. Von ihrem Mann gibt es kein Lebenszeichen und da sie kein Dokument besitzt, dass seinen möglichen Tod an der Front dokumentiert, bekommt sie auch keine Witwenrente. So kann sie die Miete nicht mehr aufbringen und verliert ihre Wohnung. Karolines Leben scheint eine positive Wendung zu nehmen, als Jørgen (Joachim Fjelstrup), der Inhaber der Textilfabrik, in der sie arbeitet, eine Affäre mit ihr beginnt. Doch als sie schwanger wird, verlässt er sie nicht nur, sondern kündigt ihr auch noch. So steht Karoline plötzlich vor dem Nichts. Am Tiefpunkt angelangt, lernt sie Dagmar (Trine Dyrholm) kennen, die ihr anbietet, das noch ungeborene Kind später an Eltern zu vermitteln, die ihm eine bessere Zukunft bieten können. Bald fasst Karoline vertrauen und beginnt sogar, in Dagmars Süßwarenladen zu arbeiten. Dabei ahnt sie nicht, was für ein grausames Geheimnis Dagmar verbirgt…

    Karoline (Victoria Carmen Sonne) muss nicht nur in der Textilfabrik einen Rückschlag nach dem anderen einstecken. MUBI
    Karoline (Victoria Carmen Sonne) muss nicht nur in der Textilfabrik einen Rückschlag nach dem anderen einstecken.

    Magnus von Horn eröffnet seinen Film mit nicht identifizierbaren Gesichtern, die sich, getrieben von der beunruhigenden Tonspur, monströs schreiend und gepeinigt zu Fratzen verziehen. Eine expressionistisch-düstere Einführung in das abgründige Sittengemälde im Nachkriegs-Kopenhagen, wie sie auch einem Horrorfilm entsprungen sein könnte. Es ist eine harte Zeit, besonders für die Frauen, die sich fast ausschließlich über den Mann an ihrer Seite definieren konnten. Alleinstehend hatten sie kaum Chancen auf ein würdiges Leben, geschweige denn die Möglichkeit, für ein Kind angemessen zu sorgen. In diesem verzweifelten Szenario lassen sich die jungen Frauen nur allzu bereitwillig auf die trügerische Hoffnung ein, die Dagmar Overbye ihnen in Aussicht stellt.

    Im Zentrum des Films steht die Schicksals-gebeutelte Karoline, die das traurige, von Perspektivlosigkeit dominierte Schicksal vieler junger Frauen dieser Zeit abbildet. Victoria Carmen Sonne („Godland“) verkörpert sie als zähe, etwas naive Frau, die trotz aller Widrigkeiten immer wieder Stärke beweist und sich ihren Weg bahnt. Mit Charisma und einer furchteinflößenden Entschlossenheit fesselt die großartige Trine Dyrholm („Königin“) in der Rolle der mysteriösen Dagmar, die sich für Karoline – zumindest zu Beginn ihrer Freundschaft – als wichtige Verbündete im Kampf gegen die Härte des Schicksals erweist.

    Grandioses Schauspielkino

    Dyrholm lässt die Zwiespältigkeit und innere Gebrochenheit dieser nach außen hin so starker Frau meisterhaft durchscheinen. Obwohl Overbyes persönliche Hintergründe ein Mysterium bleiben, wird dem Zuschauer unmittelbar klar, dass auch sie bereits viel erlitten haben muss. Die Frauen, die sie aufsuchten, konnten oder wollten sich nicht selbst um das Wohl ihrer Kinder kümmern. Obrerdivkl zweifelhafte Moralauslegung bezieht sich dabei darauf, dass die Frauen ihr nur zu gern die unwahrscheinliche Möglichkeit einer Adoption der Kinder durch liebevolle, wohlhabende Eltern abgenommen hätten, um ihr Gewissen beruhigen und ihr Leben unbelastet, ohne die ungewollten Kinder fortsetzen zu können.

    Regisseur Magnus von Horn beschreibt „Das Mädchen mit der Nadel“ selbst als ein modernes Märchen für Erwachsene. Es sei ein Film, in dem der Zuschauer einer armen Frau begegne, die auf einem Dachboden lebt, einem Prinzen auf einem weißen Pferd, der sich später als feige herausstellt, einem Monster ohne Gesicht, aber mit einem Herzen aus Gold, sowie einer Hexe in einem Süßwarenladen. Mit diesem märchenhaften Stil wolle er eine Geschichte erzählen, die zwar vor langer Zeit spiele, aber ein Thema behandle, das auch heute noch von großer Bedeutung sei: Es geht um das „Unerwünschtsein“ und die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die als „unerwünscht“ gebrandmarkt werden.

    Magnus von Horn erzählt seinen Film in trügerisch schönen Schwarz-Weiß-Bildern. MUBI
    Magnus von Horn erzählt seinen Film in trügerisch schönen Schwarz-Weiß-Bildern.

    Die Schwarz-Weiß-Bilder sind eindrucksvoll und verleihen dem abgründigen Drama nicht nur eine noch realistischere, sondern auch eine der Handlung entsprechende düstere Atmosphäre. In dieser harten Welt, in der verstörende Schicksale an jeder Ecke aufeinandertreffen, gibt es keinen Raum für Farben. Zudem spiegeln die Schwarz-Weiß-Bilder historische Fotografien wider, die unser Bild dieser Zeit prägen. Eine Szene, in der eine Menge von Arbeitern nach Dienstschluss aus den offenen Toren der Textilfabrik strömt, kann sogar als Reminiszenz an den legendären „Arbeiter verlassen das Lumière-Werk“ (1895), einem der allerersten Filme überhaupt, verstanden werden.

    Fazit: Bestürzend, packend und grandios gespielt! In bestechenden Schwarz-Weiß-Bildern erzählt „Das Mädchen mit der Nadel“ einen auf realen Begebenheiten basierenden Alptraum um Selbstbestimmung, trügerische Versprechen und Verzweiflung. Regisseur Magnus von Horn zeichnet ein dreckig-realistisches Bild Europas nach dem Ersten Weltkrieg, in dem zwei Frauen an einem hoffnungslosen Ort zu überleben versuchen und dabei nicht vor extremen Entscheidungen zurückschrecken. Da muss man auch als Zuschauender einiges einstecken können, aber es lohnt sich!

    Wir haben „Das Mädchen mit der Nadel“ im Rahmen des 21. Festival de Sevilla gesehen.

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