Letzter Ausweg: Model
Von Jochen WernerAls 13-jähriges Mädchen hat man’s prinzipiell nicht leicht, und in Litauen anscheinend schon dreimal nicht. Jedenfalls nicht in dem sozialen Milieu, in dem Marija (Vesta Matulytė), die Protagonistin von Saulė Bliuvaitės Regiedebüt „Toxic“, aufwächst. Von der Mutter zur Großmutter in irgendeine graue Industriestadt abgeschoben und aufgrund einer angeborenen Gehbehinderung von allen Mobberinnen der Schule zum Abschuss freigegeben, träumt Marija allen Hindernissen zum Trotz von einer Karriere als Model – und somit vor allem von einer Fluchtlinie aus ihrem tristen, ärmlichen Leben. Umso furchtbarer ist es für sie, als ihr Mitschülerin Kristina (Ieva Rupeikaitė) ihre schicke Jeans aus der Schulumkleide klaut und sie dann ein paar Tage später selbst zum Model-Casting trägt.
Eine Straßenprügelei später ist jedoch alles wieder im Lot – und zwischen den beiden Mädchen, die sich zunächst spinnefeind schienen, entwickelt sich eine unwahrscheinliche, aber umso engere Freundschaft. Es ist beinahe eine Art Seelenverwandtschaft, zusammengeschweißt von den Verhältnissen, und von der Bereitschaft, (fast) alles zu tun, um ihnen zu entkommen. Und Möglichkeiten, fast alles zu tun, bieten sich ihnen ausreichend: Erwachsene sind jedenfalls als Erziehungsberechtigte und Vorbilder komplett abwesend, und die älteren Männer, mit denen sie in dieser Lebenswelt dann doch in Kontakt kommen, sexualisieren die jungen Mädchen ohne jede Scham und Zurückhaltung.
Auch dass man sich mit „Massagen“ schnell ein paar Euro verdienen könne, raunt man sich zu – und mutmaßt, wer sich aus der Clique schon zu sexuellen Dienstleistungen hat hinreißen lassen. Geld jedenfalls ist für Marija und Kristina dringend vonnöten, denn das Coaching der zwielichtigen Model-Trainerin Romas (Eglė Gabrėnaitė) ist teuer, und auch der Bandwurm, den man sich im Internet bestellt, um endlich dünn genug zu werden für den großen Traum, kostet Geld…
Zwischen der wachsenden Vertrautheit und Intimität zwischen den beiden Freundinnen und einer aus dem Kino des osteuropäischen Miserabilismus mitunter allzu vertrauten Darstellung sozialer Verwahrlosung oszillierend, inszeniert Regisseurin Bliuvaitė hier ein Coming-of-Age-Stück in der Tradition der humanistischen White-Trash-Studien von Larry Clark („Kids“) und/oder Harmony Korine („Spring Breakers“). „Toxic“ ist dabei zwar absolut solide und empathisch durcherzählt, hat in narrativer Hinsicht aber tatsächlich wenig Neues zu bieten – und gelegentlich droht so doch der Eindruck, Filme wie diesen schon zu oft gesehen zu haben im internationalen Arthouse-Kino. Formal allerdings zieht Bliuvaitė noch einmal ganz andere Register, und damit hebt sie den beim Filmfestival in Locarno mit dem Goldenen Leopard ausgezeichneten Film dann tatsächlich auf ein ganz anderes, höheres Niveau.
Auf formaler Ebene trifft hier eine verblüffende Ambition auf eine große visuelle Begabung – und in konsequentem Gegensatz zu einer gewissen Formlosigkeit, die das sozialrealistische Arthouse-Kino allzu oft prägt, ist in „Toxic“ kaum ein Bild zu finden, das nicht gestaltet und minutiös durchkomponiert ist. Jede Kameraeinstellung ist zuallererst vom Bild her gedacht, und das macht Bliuvaitės Debüt, der finsteren Thematik zum Trotz, zu einem ungemein schönen Film. Und während eine solche Bildverliebtheit in weniger begabten Händen auch leicht übers Ziel hinausschießen und prätentiöses Armutsporno-Festivalkino hervorbringen kann, fügt sich in Bliuvaitės Regie alles wundersam zusammen.
Nicht zuletzt geschieht dies auch im Zeichen eines glaubhaften Humanismus, denn selbst von den zynischen, abwesenden, egoistischen und ganz und gar nicht perfekten Erwachsenen wird hier im Grunde niemand so richtig durch und durch denunziert. Keiner kommt in dieser Welt so richtig klar, jeder ringt mit seinen Dämonen – und doch blüht manchmal ein Moment von Zärtlichkeit oder Zuwendung auf, gerade dann, wenn man nicht mehr damit rechnet.
Am Ende bleibt vor allem der Eindruck zurück, dass mit der 30-jährigen Regiedebütantin Saulė Bliuvaitė eine große Begabung die Bühne des Weltkinos betritt. „Toxic“ mag inhaltlich noch etwas zu sehr in den vertrauten Konventionen des Coming-of-Age-Festivalkinos verhaftet sein, aber man darf unbedingt sehr gespannt auf hoffentlich bald folgende weitere Regiearbeiten der jungen Litauerin sein. Denn mit mehr formalem Einfallsreichtum und tatsächlicher visueller Kreativität hat man einen solche, narrativ eher konventionellen Stoff schon länger nicht mehr in Szene gesetzt gesehen.
Fazit: Sicher nicht der originellste Film des Jahres, wohl aber einer der visuell schönsten. Die litauische Regiedebütantin Saulė Bliuvaitė erzählt die Geschichte einer Mädchenfreundschaft vor dem Hintergrund von Armut und sozialer Verwahrlosung in berückend schönen Bildern, ohne dabei Empathie und Menschenliebe aus den Augen zu verlieren. Als Film schön, und als Talentprobe einer spannenden neuen Filmemacherin hervorragend.
Wir haben „Toxic“ im Rahmen des 19. Around the World in 14 Films Festival in Berlin gesehen.