Ein Vogel (?) als Helfer in der Not
Von Michael Meyns„Macht Filme über das, was ihr kennt“, wird Regiestudent*innen oft geraten. In diesem Sinne macht Andrea Arnold („Fish Tank“) alles richtig. Selbst wenn sie nicht streng autobiografisch sind, so sind die Filme der inzwischen 63-jährigen Engländerin doch autobiografisch geprägt – und das vielleicht noch nie so sehr wie in „Bird“, ihrem ersten Spielfilm seit „American Honey“ vor acht Jahren. Um prekäre Familienverhältnisse geht es, verwahrloste Kinder, Gewalt und die Hoffnung, dass trotz allem doch noch so etwas wie eine Familie entstehen kann. In ihrem typischen, impressionistischen Stil erzählt Arnold eine Geschichte, die sich trotz metaphysischer Elemente etwas zu bekannt anfühlt, um zu überraschen. Dabei variiert sie die Themen, die sie schon seit Langem umtreiben. Immer wieder gelingen ihr dabei wunderbare, wie dahingeworfene Momente, die aber diesmal etwas zu lose nebeneinanderstehen, um mehr zu sein als Stückwerk.
In prekären Familienverhältnissen wächst die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) auf, in Kent, im Südosten Englands, nicht weit weg von London, aber doch einer anderen Welt. Ihr Vater Bug („Saltburn“-Shootingstar Barry Keoghan) ist mal liebevoll umsorgend, mal jähzornig gereizt. In ein paar Tagen will er heiraten, eine Frau, die er erst seit drei Monaten kennt und die eine kleine Tochter mit in die Ehe bringt. Einen Halbbruder namens Hunter (Jason Buda) hat Bailey bereits, dazu drei Halbgeschwister, die ihre Mutter aufzieht. Wirklich behütet wächst keins der vielen Kinder auf, zumal die Eltern eher an Alkohol und Drogen interessiert sind. Eines Tages taucht ein seltsamer Kerl auf, der sich Bird (Franz Rogowski) nennt und nach seinem Vater sucht. Eine spezielle Verbindung zwischen ihm und den Kindern entsteht, in der die Grenzen zwischen Realität und Fantasie zunehmend verwischen…
Andrea Arnold stammt selbst aus Kent, sie ist das älteste von vier Geschwistern, ihre Mutter war erst 16 Jahre alt, als sie ihr erstes Kind bekam. So wie die Regisseurin es schon oft erzählt hat, wuchs sie in einer Sozialsiedlung auf, verbrachte viel Zeit draußen auf den Straßen, zog sich quasi selbst groß. Sie wird also vermutlich ähnlich viel Verantwortung für ihre kleineren Geschwister übernommen haben, wie es nun ihre Hauptfigur Bailey tut. Die ist zwar erst zwölf Jahre jung, wirkt aber schon viel älter. Vorteile hat die frühe Selbstständigkeit natürlich auch, ein enormes Maß an Freiheit geniest Bailey, doch die negativen Seiten überwiegen. Schule scheint nicht stattzufinden, die wechselnden Partner*innen der Eltern verlangen den Kindern immer neue Eingewöhnung ab.
Hervorragend gelingt es Arnold, das Leben in diesen prekären Familienverhältnissen darzustellen, auch dank der treibenden Bilder ihres Stammkameramanns Robbie Ryan. Wie immer dreht er fast nur aus der Hand, ist ganz nah bei den Figuren. Er findet aber auch die Zeit, hier ein am Fenster schwirrendes Insekt einzufangen, dort einen Sonnenstrahl, da einen Moment der Schönheit, der das Elend für einen Moment zu durchbrechen scheint. Und darum scheint es Arnold diesmal ganz besonders zu gehen: Die Schönheit in einer Situation zu finden, die auf den ersten Blick alles andere als anziehend wirkt. Zu diesem Zweck taucht der von Franz Rogowski gespielte Bird im Film auf, der wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkt, einerseits real, andererseits enigmatisch.
Mit seinem markanten Gesicht, seinem leichten Lispeln und seiner ganz eigenen Art passt Franz Rogowski („Transit“) perfekt in diese Rolle und hilft, „Bird“ eine regelrechte magische Aura zu verleihen: ist der Titelheld nur ein merkwürdiger Außenseiter, gar gefährlich, oder vielleicht wirklich ein magisches (Vogel-)Wesen, das nur in Bailys Einbildung oder sogar tatsächlich existiert. Doch so schön einzelne Momente auch sind, wenn etwa eine Kröte durch das gemeinsame Singen von Coldplays Gassenhauer „Yellow“ zum Absondern von halluzinogenem Sekret animiert werden soll oder eine Krähe auf einmal zum Überbringer einer geheimen Nachricht wird: Ganz rund wirkt „Bird“ am Ende doch nicht. Schon im Vorfeld hat Arnold von den schwierigsten Dreharbeiten ihrer Karriere berichtet, erzählt, dass sie vieles, das geplant war, nicht umsetzen konnte.
Vielleicht liegt es daran, vielleicht war die Geschichte am Ende doch ein wenig zu nah an ihren persönlichen Erinnerungen, so oder so finden die einzelnen Elemente diesmal nicht ganz zusammen. Ein impressionistischer Ansatz, wie ihn Arnold bei „Bird“ verfolgt, ist ambitioniert, birgt aber immer das Risiko, dass der Verzicht auf eine starke Handlung, der Versuch, mit Stimmungen und Bildern zu erzählen, allzu lose und mäandernd bleibt. Vielleicht aber ist es am Ende auch einfach nur an der Zeit, dass sich Arnold ganz anderen Sujets zuwendet und etwas völlig Neues versucht und riskiert, auch wenn das dann weniger autobiografisch wäre.
Fazit: Auch in ihrem neuen Film „Bird“ beschäftigt sich Andrea Arnold mit prekären Familienstrukturen, in denen junge Menschen aufwachsen. Wie immer findet die englische Regisseurin dabei stimmungsvolle, impressionistische Bilder, die sie dieses Mal mit magischen Elementen anreichert – eine Mischung, die nicht ganz glückt und dazu führt, dass „Bird“ Stückwerk bleibt.
Wir haben „Bird“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.