Vom Pizzagate ins Wunderland
Von Jochen WernerAnfangs, solang wir die 17-jährige Lilian (Talia Ryder) aus South Carolina noch auf einer ziemlich normalen Klassenfahrt begleiten, wirkt das Regiedebüt des etablierten Kameramanns Sean Price Williams noch wie ein halbwegs normaler US-Independent-Film. Aber dann kommt der Vorspann – und „The Sweet East“ kippt komplett: „I’m the cat that lost its black“, singt Teenagerin auf der Damentoilette eines Pizzaschuppens in Washington, D.C. – und dabei wechselt Williams nicht nur komplett sein ästhetisches Register, wenn er seinen Film für drei Minuten zu einem Musical mutieren lässt. Es stellt sich im selben Moment auch heraus, dass das nicht irgendein beliebiger Pizzaladen zu irgendeiner beliebigen Zeit ist:
Denn während Lilian auf der Toilette sitzt, dringt ein mit einer Pistole herumfuchtelnder PizzaGate-Verschwörungstheoretiker ins Restaurant ein, wild entschlossen, die armen, im Keller gefangengehaltenen Kinder zu befreien. Wie die Geschichte ausgeht, erfahren wir allerdings an dieser Stelle nicht – denn der selbsternannte „Artivist“ Caleb (Earl Cave) nimmt Lilian an der Hand, öffnet die Tür zu einem geheimen Tunnelsystem unter der Pizzeria (als Kind habe es dort unten alles viel größer gewirkt, wie er nebenbei erwähnt) und führt sie aus der Gefahrenzone heraus und in die große, weite Welt, die sie im Folgenden in der Form eines Stationendramas erforschen wird. Ein an „Alice im Wunderland“ erinnernder Sturz direkt hinein ins Chaos, nach dem direkt klar ist, dass in den folgenden eineinhalb Stunden wohl so ziemlich alles möglich sein wird.
Zunächst führt ihr Weg sie in die aktivistische Künstler*innen-WG von Caleb, wo dieser ihr nicht nur seine Multimediakunstcollagen (die er allerdings nirgends öffentlich macht, denn dies würde den „Happening-Charakter“ seiner Kunst zerstören) zeigt, sondern auch die erste Gelegenheit nutzt, mit seinem beeindruckend gepiercten Penis vor ihrer Nase herumzuwedeln. Gleichwohl erklärt sich Lilian bereit, an einer Antifa-Aktion der Kommune mitzuwirken, die sie jedoch mit allerlei Schlaginstrumenten ausgerüstet lediglich auf ein leeres Feld führt.
Erst als Lilian die Gruppe verlässt, um ungestört zu urinieren, und anschließend allein durch das Gelände irrt, stößt sie auf eine tatsächliche Versammlung von White Supremacists – und lässt sich direkt vom neonazistischen Literaturprofessor Lawrence (Simon Rex) abschleppen. Der lebt zurückgezogen in einem vollgeramschten Haus, schwadroniert über „racial consciousness“ und Edgar Allan Poe, züchtet Motten und übernimmt zwielichtige Jobs für Alt.Right-Terroristen, während er sich als asexueller väterlicher Freund für Lilian aufspielt und im selben Moment sein nur mühsam unterdrücktes sexuelles Begehren im Zaum zu halten versucht.
Die nächste Station auf der Odyssee dieser teils scheinbar willenlosen, teils schamlos manipulativen Protagonistin beginnt dann in New York City. Dorthin begleitet sie Lawrence zur Übergabe einer mysteriösen Geldtasche, die sie kurzerhand entwendet. Auf der Flucht wird sie jedoch von einem sehr enthusiastischen afroamerikanischen Filmemacher*innenduo angesprochen, das sie unbedingt für die Hauptrolle in ihrem Indie-Kostümfilmdrama über den Bau des Erie-Kanals besetzen will. Und wieder entgleist der Plot von „The Sweet East“, wechselt komplett das Register und wird – mit einer Gastrolle für Jacob Elordi, der gerade den Elvis für Sofia Coppolas „Priscilla“ gab und hier selbst als Prototyp des jungen, umschwärmten Filmstars auftritt – zur knalligen Celebrity-Culture-Persiflage.
Jedenfalls so lange, bis sich einer der zuvor fallengelassenen Handlungsstränge selbst wieder ins Spiel bringt und der Film für Momente gar zum Funsplatter-Massaker in der Tradition von Quentin Tarantino mutiert. Das ist dann auch der Moment, an dem einen das muntere Umherspringen zwischen Erzählweisen und Tonlagen auch mal auf die Nerven gehen kann, zumal es hier doch etwas arg selbstzweckhaft erscheint – aber hey, das Motto von „The Sweet East“ lautet nun einmal „alles wird geschehen“, und dem versucht der Film mit wirklich allen Mitteln gerecht zu werden.
„Die beste Schauspielerin ist eine Frau, die ja sagt“, konstatiert die Regisseurin Molly (Ayo Edebiri) einmal, und Lilian sagt eigentlich immer ja, zu allem. Zumindest zunächst, denn so willenlos, wie sie sich immer wieder in diese und jene Gemeinschaft – stets unter anderem Namen – hineinspülen lässt, so wenig geht sie in irgendeiner davon auf. Lilian scheint sich nicht daran zu stören, mal Antifa und mal Alt.Right zu sein, mal zur Indiewood-Celebrity und schlussendlich zur heimlich im Schuppen versteckten Freundin eines Eurodance-begeisterten Islamisten zu mutieren. Eine seltsam ungreifbare Protagonistin, irgendwo zwischen leerer Chiffre und störrischer Systemsprengerin changierend, treibt ziellos durch die als zunehmend verblödet skizzierten Vereinigten Staaten von Amerika. Sie scheint niemals wirklich eine eigene Agenda zu verfolgen und führt am Ende doch immer wieder katastrophische bis absurd-komische Eskalationen herbei.
Was genau Sean Price Williams uns mit dieser nahezu pikaresken Figur und ihrer Narrenreise durch eine Narrennation sagen will, bleibt am Ende ähnlich ungreifbar wie diese Lilian, aber das ist wahrscheinlich auch gut so. Ein Bildungsroman entsteht am Ende jedenfalls nicht, denn es wird zwar viel passiert sein, aber verändert hat sich im Grunde nichts. Mit heiligem Ernst werden Lilians Wegbegleiter ihr Werk an diametralen Polen des politischen Spektrums verrichtet und dabei viel Zerstörerisches angerichtet haben – aber im Großen und Ganzen ist doch alles geblieben, wie es war, und Lilian hat wenig mehr als ein unlesbares Grinsen für all die Verblendeten und all die Ideologen übrig, denen sie auf ihrer Odyssee begegnet ist. Alles egal, alles nicht mehr zu retten? Diese Entscheidung überlässt uns „The Sweet East“ am Ende selbst.
Fazit: Ein formal wahnsinnig origineller Trip ins Herz und in die Abgründe der Verblödenden Staaten von Amerika. Mitunter schießt der munter zwischen verschiedensten Tonlagen changierende Film etwas übers Ziel hinaus, aber am Ende bleibt doch ein zwar schwer greifbarer, aber durch und durch origineller Film, wie man so garantiert noch keinen zuvor gesehen hat.