In den Fußstapfen von Jafar Panahi & Abbas Kiarostami
Von Patrick FeyWelche Bilder verbleiben der Kunst, wenn uns die Zensur untersagt, unsere gelebte Erfahrung in eine künstlerische Form zu überführen? Regelmäßig stehen Filmschaffende der Islamischen Republik Iran vor dieser Frage. Einer der bekanntesten unter ihnen, Jafar Panahi, begann vor vielen Jahren, diese Frage selbst ins Zentrum seiner Filme zu stellen — nicht zuletzt, weil Panahis Filme wiederholt verboten und er selbst verhaftet wurde. In Weiterführung der traditionell experimentierfreudigen Erzählformen des iranischen Kinos fand er Wege, seine Filme auf der Grenzlinie zwischen Realität und Narration balancieren zu lassen.
Bei den Filmfestspielen von Cannes 2011 erreichte Panahis kinematographisches Projekt mit „This Is Not A Film“ einen in seiner Konsequenz bewundernswerten Höhepunkt, als es dem Inhaftierten gelang, seinen neuen Film auf einem in einer Geburtstagstorte eingearbeiteten USB-Stick aus dem Land zu schmuggeln. Während der Film selbst uns Panahi unter Hausarrest und Filmverbot zeigt und ihn dabei verfolgt, wie er uns seinen nächsten Film mit Gesten, Zeichnungen und Kamerabewegungen skizziert, entwickelt sich die Bestandsaufnahme seiner Lebenssituation paradoxerweise selbst zum filmischen Ereignis.
Unter nicht gänzlich unähnlichen Voraussetzungen beschlossen die beiden iranischen Regisseure Ali Asgari und Alireza Khatami gemeinsam das Drehbuch zu „Irdische Verse“ zu schreiben, nachdem die beiden sich am Rande des Filmfestivals von Venedig anfreundeten. In Iran gebe es ein Vor und ein Nach der „Woman, Life, Freedom“-Protestbewegung, der sich im September 2022 – in Reaktion auf den Tod Mahsa Aminis – unzählige Iraner*innen auf den Straßen anschlossen. Für Asgari und Khatami gehe es daher, so die Filmemacher, nicht mehr nur darum, Geschichten um das (politische) Feuer herumzuerzählen, sondern aus diesem heraus.
In der Konzeption orientieren sie sich dabei am Ghazal, einer vorislamischen Kulturkreisen der arabischen Halbinsel entsprungenen Gedichtform. In elf Episoden unterteilt, dokumentieren die titelgebenden „irdischen Verse“ minutiös die aufreibenden Alltagskonfrontationen der Iraner*innen mit Vertreter*innen der Autorität. Nachdem wir eingangs im Zeitraffer sehen, wie sich die Nacht über Teheran in den Tag verwandelt, gibt uns die folgende Szene einen Vorgeschmack sowohl für die Form dieser „Verse“ als auch für deren thematischen Unterbau.
In einer statischen Einstellung, und entgegen dem Breitbild des Teheraner Panoramas nun im verengten 4:3, steht dort ein Mann an einem Tresen und wendet sich mit seinem Anliegen scheinbar an uns. Der Mann ist frischgebackener Vater und kümmert sich in Abwesenheit der Mutter um das Bürokratische: die Namenseintragung seines neugeborenen Sohnes. Geht es nach der Mutter, soll er David heißen — der Name ihres Lieblingsschriftstellers. Der Beamte hinterm Tresen, dessen Perspektive wir als Zuschauer*innen einnehmen, ohne ihn selbst jemals zu Gesicht zu bekommen, zeigt sich allerdings nicht willens, diesem Wunsch nachzukommen. David sei schließlich kein religiöser Name. Aber doch, David, das ist die westliche Version von Davood, erwidert ihm der Vater — ‘Nun, Davood, das ist doch ein toller Name. Warum nicht Davood?‘
Auf diese Weise geht die Diskussion hin und her, vor und zurück, nimmt eine Abzweigung, dann noch eine, wiederholt sich — nur um letztlich an den Anfangspunkt zurückzukehren. Es dauert nicht lang, bis sich die Ergebnisoffenheit dieser Diskussion als Illusion herausstellt. Dass jeder weitere Einwand nur den Radius der Diskussion vergrößert, deren Kreisstruktur uns längst dämmert: Der Anfang ist hier zugleich das Ende.
Dass die Autorität in „Irdische Verse“ ohne Gesicht bleibt, vergrößert nur die Frustration, die wir gemeinsam mit den Protagonist*innen empfinden. Denn obgleich sich die thematisch verzahnten Vignetten anhand ganz unterschiedlicher Einzelschicksale abspielen und die Vertreter*innen der Macht verschiedene Posten besetzen, sie scheinen doch alle die gleiche Sprache zu sprechen. Ob direkte und indirekte Staatsdiener*innen oder Vertreter*innen der Privatwirtschaft, sie alle zeigen sich auf die eine oder andere Weise von ihrer Machtposition korrumpiert. Statt Redundanz erzeugt die thematische Wiederholung und vielstimmige Einstimmigkeit der Autorität einen Rhythmus, der die Episoden miteinander verwebt – und bei einer Laufzeit von ohnehin nur 77 Minuten wird das auch längst nicht überstrapaziert.
Man ist geneigt, diese Situationen kafkaesk zu nennen — oder wäre es, wenn sie für Millionen von Iraner*innen nicht schmerzhaft vertraut wären. Und so kann man angesichts der schieren Absurdität des Beamten-Wahnsinns mitunter kaum anders, als laut loszuprusten – nur damit einem das Lachen dann doch sofort im Halse stecken bleibt. Schließlich braucht es nur wenig Fantasie, in einer der Szenen, in der ein Regisseur sich mit den an ihn herangetragenen Zensurauflagen auseinandersetzen muss, autobiografische Aspekte aus dem Leben von Ali Asgari und Alireza Khatami zu erkennen. Dass diese wiederkehrende Konfliktstruktur sich mit fortschreitender Laufzeit nicht abnutzt, mag indes auch daran liegen, dass den Protagonist*innen mehr als ein bloßer Opferstatus zugestanden wird.
Hin und wieder werden wir etwa auf dem falschen Fuß erwischt, wenn wir eine der Hauptfiguren bar jeder Grundlage beschuldigt vermuten — nur um dann herauszufinden, dass an den Beschwerden womöglich doch etwas dran ist. Etwa, als eine Schülerin von ihrer Lehrerin bezichtigt wird, sich mit einem Jungen eingelassen und von diesem auf dem Motorrad gefahren worden zu sein. Dass die Schülerin die Lehrerin womöglich belügt und tatsächlich in einer Beziehung mit einem Jungen ist, gibt der Figur Profil und verkompliziert unsere Position als Beobachter*in: Wenn wir die Schülerin ob ihrer Lüge verurteilen, machen wir uns dann nicht mit den illiberalen Gesetzen eines unterdrückenden Systems gemein?
Noch unscheinbarer als jener Rapport, zu dem die Schülerin in dieser Szene antreten muss, kommt die vermutlich ikonischste Vignette der „Irdischen Verse“ daher. Darin betritt ein Mann zur Führerscheinverlängerung eine öffentliche Behörde — eine Formalie, sollte man meinen. Dem Beamten allerdings sagen weder das Mickey-Mouse-T-Shirt noch die Tattoos zu, die der Mann am Körper trägt. Die Verse eines vollständigen Gedichts, das in seiner vermeintlichen Obszönität den Unmut des Beamten auf sich zieht, finden sich in seinen Körper gestochen. Auch hierin spiegelt sich ein wiederholt auftretendes Motiv des Filmes: Wo befinden sich die Grenzen unseres privaten Raumes, und ist unsere Kontrolle über diesen wirklich jemals unangetastet?
Dagegen fällt eine andere Szene — ein Vorstellungsgespräch einer jungen Frau, deren potenzieller Arbeitgeber sich schnell ausschließlich für ihr Privatleben interessiert, nicht aber für ihre Qualifikationen — etwas ab. Nicht, weil es jene Szene an Intensität oder Relevanz vermissen ließe. Allerdings kommt diese Episode weniger überraschend daher und lässt in ihrer fehlenden Mehrdeutigkeit keine Zweifel daran, wie wir uns als Publikum zum Geschehen zu positionieren haben.
Fazit: Was „Irdische Verse“ über weite Strecken seiner Laufzeit so faszinierend macht, sind die hervorragenden Dialoge, die sprachlichen und visuellen Zwischentöne, die scharfe Beobachtung sozialer Codes sowie die formale Klarheit, mit der Ali Asgari und Alireza Khatami ihr Projekt verfolgen. Mit „Irdische Verse“ gelingt es den beiden, ein Stück weit aus dem Schatten ihres großen Vorbildes Abbas Kiarostami herauszutreten — paradoxerweise dadurch, dass sie sich diesem konzeptionell annähern: die Dokumentation der Realität durch die iterative Verformung der Fiktion.
Wir haben „Irdische Filme“ beim International Film Festival Rotterdam gesehen.