Der "Avatar 2" unter den Dokumentarfilmen
Von Michael MeynsIm eigenen Land gilt der Prophet – oder in diesem Fall der Künstler – oft weniger als im Ausland. Dieses Sprichwort lässt sich nicht nur auf den in Deutschland oft als altmodisch gebrandmarkten Regisseur Wim Wenders („Perfect Days“) anwenden, sondern auch auf das Subjekt seiner neuesten 3D-Dokumentation „Anselm (Das Rauschen der Zeit)“. Der deutsche Künstler Anselm Kiefer lebt schon seit langem in Frankreich – wohl auch, weil er in seiner Heimat oft angegriffen wurde. Das liegt vor allem an der komplexen, durchaus ambivalenten Art und Weise, mit der sich Kiefer in seinen Gemälden und Skulpturen mit der Deutschen Vergangenheit auseinandersetzt und dabei auch vor Pathos nicht zurückschreckt. Wie vielschichtig, reich an Verweisen an Kunstgeschichte und traumatische deutsche Vergangenheit Kiefers Werk ist, zeigt Wenders in atemberaubenden 3D-Bildern, die u.a. auch ebenso tiefe wie persönliche Einblicke in Kiefers Ateliers geben.
Zwei Filme – die Dokumentation „Pina“ und den Spielfilm „Die schönen Tage von Aranjuez“ – hat Wim Wenders bislang in 3D gedreht, dazu ein Segment des Kompilationsfilms „Kathedralen der Kultur“, in dem der „Himmel über Berlin“-Regisseur die verschachtelte Architektur der Berliner Philharmonie zeigte. Aber noch nie wirkte die Wahl des mit Ausnahme von James Camerons „Avatar 2“ fast schon wieder vergangenen 3D-Formats so zwingend wie bei diesem Film über und mit Anselm Kiefer. Denn auch wenn der inzwischen 78-jährige Künstler einst mit Zeichnungen und Gemälden begann, also quasi in 2D arbeitete, ergänzte er sein Werk bald mit immer mächtiger werdenden Skulpturen, die wie gemacht sind für eine Darstellung in 3D. Am Höhepunkt seines Schaffens beginnt dann auch Wenders Film, im südfranzösischen Barjac, wo Kiefer Anfang der Neunzigerjahre ein 40 Hektar großes Areal bezog, es mit Galeriehäusern und Ateliers überzog und es im Laufe mehrerer Jahrzehnte durch das Ausschachten von Tunneln sowie dem Stapeln von Türmen in ein spektakuläres Gesamtkunstwerk verwandelte.
Im südfranzösischen Barjac hat Anselm Kiefer ein bombastisches Gesamtkunstwerk geschaffen.
Auf den Hügeln, inmitten eines kleinen Wäldchens, vor den Hintergrund einer wildromantischen Landschaft, stehen da etwa weiße Kleider im Raum, mit Gips gehärtet, anstelle von Köpfen sieht man Steine oder Glassplitter. Schwerelos umfährt die Kamera die Skulpturen, die ultrascharfen 6K-Bilder lassen sie und die sie umgebende Natur so lebendig wirken, als wäre man persönlich vor Ort. Ein Schnitt und wir befindet uns in einem Vorort von Paris, wo Kiefer inzwischen sein Atelier hat, wobei sich „Atelier“ hier etwas zu bescheiden anhört. Eine gigantische Halle voller Kunstwerke ist zu sehen, so groß, dass Kiefer darin mit dem Fahrrad unterwegs ist. Eine Leinwand, an der er im Film arbeitet, ist gut 10 x 20 Meter groß, so dass Kiefer nicht nur eine Hebebühne, sondern auch kesselgroße Farbeimer verwenden muss. Dieser schiere Bombast von Kiefers Werken ist auch eine Ursache der Kritik: In Deutschland mag man es eben lieber bescheidender und nicht mit solch ausgestelltem Drang zur Größe wie bei Kiefer.
Ein anderer Kritikpunkt war stets die Art des Umgangs mit der deutschen Geschichte. Wie sehr Kiefers Werk sich auf den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Trümmerjahre bezieht, zeigt Wenders mit impressionistischen Montagen, die sich lose an Kiefers Biographie orientieren, aber nie zu einem bloßen Abhaken von Daten und Fakten geraten. Stattdessen verknüpft Wenders fließend Aufnahmen von Kiefers Werken mit historischen Dokumentaraufnahmen, darunter auch Lesungen berühmter Dichter*innen wie Ingeborg Bachmann oder Paul Celan, die für Kiefers Werk von großer Bedeutung waren: Immer wieder finden sich in diesem direkte Zitate aus Gedichten, der Mythologie oder der Bibel. Weniger linear als assoziativ streift Wenders durch Kiefers Werk, zeigt Verbindungen auf, ohne sie allzu sehr auf den Punkt zu bringen. „Anselm (Der Rausch der Zeit)“ ist informativ, ohne belehrend zu werden. Sogar einige Nachstellungen funktionieren besser als oft: Kiefers Sohn Daniel spielt seinen Vater als junger Mann, Wenders Großneffe Anton den Künstler als Kind – und liegt dann in einem Feld mit Sonnenblumen, was zum einen auf eine Arbeit verweist, die der erst 18-jährige Kiefer einst über Vincent van Gogh anfertigte, aber auch an die verbrannten, mit Gips gehärteten Sonnenblumen, die ebenso typisch für Kiefers Werk sind wie die Verwendung von Stroh, Asche und Blei.
Als wäre man selbst vor Ort dabei – derart beeindruckende 3D-Bilder hat man abseits von „Avatar 2“ in den letzten Jahren selten gesehen!
Gerade von den letzten beiden genannte Materialien lassen sich leicht Verbindungen zur deutschen Geschichte, den Verwüstungen des Krieges, den Trümmerbergen der Nachkriegszeit ziehen. Das Gesamtkunstwerk Barjac, mit seinen Türmen und Tunneln, aber auch die riesigen Leinwände, die Kiefer oft mit Flammenwerfer oder glühendem Blei bearbeitet, wirken da fast so, als wären sie aus den Trümmern der deutschen Geschichte entstanden. Kunst als Trauma-Therapie könnte man das nennen, Kunst als Versuch, dem Schrecken der Geschichte etwas Menschliches entgegenzusetzen. Kunst aber auch als große Geste, die unmittelbar beeindruckt, auch ohne das jeder Bezug und Verweis verständlich wird. Wim Wenders „Anselm (Das Rauschen der Zeit)“ will keine Anleitung sein, sondern neben Einblicke in die Kiefer‘sche Gedanken- und Gefühlswelt vor allem die Ästhetik eines beeindruckenden Werkes kongenial auf die 3D-Leinwand bringen.
Fazit: In seinem Porträtfilm „Anselm (Das Rauschen der Zeit)“ taucht Wim Wenders in spektakulären 6K-3D-Bildern in das faszinierende Werk Anselm Kiefers ein – einem der wichtigsten deutschen Künstler der letzten Jahrzehnte. Weniger ein klassisch biographischer Film, sondern vielmehr eine impressionistische, assoziative Spurensuche, die die Vielschichtigkeit eines enorm umfangreichen Werk so eindrucksvoll-imposant in Szene setzt, als wäre man selbst vor Ort dabei.
Wir haben „Anselm (Das Rauschen der Zeit)“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen.