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    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt

    Das nächste Juwel von Radu Jude

    Von Michael Meyns

    Wenn ein Auftritt des umstrittenen Regisseurs Uwe Boll („Postal“) noch nicht einmal das seltsamste ist, dann weiß man, dass man einen sehr speziellen Film anschaut. Der Rumäne Radu Jude war schon immer ein besonders interessanter Filmemacher. Aber seit gut sechs Jahren hat er einen ganz eigenen, sehr speziellen Stil entwickelt, der Spielfilm sowie dokumentarische, essayistische und experimentelle Elemente mischt. Vor drei Jahren gewann er für das 5-Sterne-Meisterwerk „Bad Luck Banging Or Loony Porn“ sogar den Goldenen Bären der Berlinale.

    Für sein neues Werk „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ erhielt er nun einen Hauptpreis beim renommierten Filmfestival in Locarno – und das völlig zu Recht. Denn auch wenn die in Deutschland exklusiv bei Streamingdienst MUBI erscheinende Satire mit 160 Minuten etwas zu lang geraten ist, vermischt Jude auch hier auf pointierte Weise Anspielungen und Verweise, mit denen er diesmal die Exzesse und Abgründe der Globalisierung angreift.

    MUBI
    Radu Jude portraitiert das moderne Rumänien (und wie schrecklich wenig sich geändert hat).

    Angela (Ilinca Manolache) ist Teil der Gig-Ökonomie im heutigen Bukarest. Ihren Tag verbringt sie vor allem in ihrem Auto, mit dem sie von einem Termin zum nächsten durch die rumänische Hauptstadt fährt. Dabei wird sie in unschöner Regelmäßigkeit von männlichen Verkehrsteilnehmern belästigt und beschimpft, weiß aber auch selber auszuteilen: Auf TikTok gibt sie sich dank Bildveränderung als glatzköpfiges, sexistisches Arschloch aus und schickt vulgäre Clips ins weite Netz – auch eine Form der Globalisierung. Hauptberuflich arbeitet sie dagegen gerade für einen österreichischen Konzern und sucht verletzte Arbeiter für ein Video über Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz.

    Als Radu Jude 2009 seinen ersten Spielfilm „The Happiest Girl In The World“ drehte, war er ein Nachzügler der sogenannten „Neuen rumänischen Welle“, die mit Regisseuren wie Cristi Puiu, Corneliu Porumboiu oder Cristian Mungiu und Werken voller langer Einstellungen ohne große Kamerafahrten auf internationalen Festivals zahlreiche Erfolge errungen hatte. Jude nahm dabei immer eine Sonderstellung ein. Während seine Kollegen meist zeitgenössische soziale Themen mit satirischem, manchmal ins Zynische driftendem Ton verhandelten, drehte er in den folgenden Jahren die Historienfilme „Aferim!“ und „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“, die als klassisches narratives Kino bezeichnet werden können. Nebenbei machte er auch rein dokumentarische Arbeiten.

    Es gibt keinen zweiten Radu Jude

    2018 entstand dann der Film, mit dem Jude eine ganz neue Richtung einschlug, zu der es im zeitgenössischen Kino keine bis kaum vergleichbare Werke gibt: „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ verknüpft eine oft komische Geschichte und die Auseinandersetzung mit rumänischer Geschichte. Das alles vermischt der Regisseur in einer Meta-Narration über die Vorbereitung eines Theaterstücks, das von der rumänischen Beteiligung am Holocaust handelt. Judes Filme spielen seitdem zunehmend mit den Möglichkeiten des narrativen, dokumentarischen und experimentellen Kinos und thematisieren auf zumeist sehr amüsante, satirische, pointierte Weise die Absurditäten der Gegenwart.

    In seinem Berlinale-Gewinner „Bad Luck Banging Or Loony Porn“ waren das Privatpornos, Cancel Culture und #metoo, „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ verhandelt nun unter anderem die ausbeuterischen Formen der Gig-Economy, die Abgründe der Globalisierung, die Exzesse von TikTok, Sexismus, Ausbeutung und noch viel mehr. Erzählt wird dies in zwei Teilen. Der erste dauert gut zwei Stunden, der zweite noch einmal 40 Minuten.

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    In TikToks-Video lässt Angela die Sau raus.

    Im ersten Teil ist Angela zu sehen, eine junge Frau, die in Bukarest lebt und arbeitet, was vor allem bedeutet: viel herumzufahren, sich dem Sexismus der männlichen Kollegen zu erwehren und dazwischen eine Art Privatleben zu haben. In körnigen Schwarz-Weiß-Bildern zeigt Jude diese Welt, die mit verwaschenen Farbbildern eines älteren rumänischen Films kontrastiert werden, aus dem Jude immer wieder Ausschnitte einfügt. Es handelt sich dabei um den 1981 entstandenen „Angela merge mai departe“ (in etwa „Angela macht weiter“) von Lucian Bratu, der auf semi-dokumentarische Weise davon erzählt, wie eine ebenfalls Angela heißende Frau im kommunistischen Rumänien lebt und arbeitet. Beiläufig filmt Jude immer wieder an denselben Orten wie Bratu Anfang der 80er-Jahre. So deutet er an, dass sich zwar manches am Stadtbild und natürlich der rumänischen Gesellschaft geändert hat, aber andererseits doch erschütternd wenig – gerade wenn es um die Rolle der Frauen geht. Und dies, obwohl damals die Ceaușescu-Diktatur das Land isolierte und heute die Demokratie Freiheit und Offenheit verspricht.

    Doch wie sieht diese Freiheit aus? Durch das Lohngefälle gegenüber dem westlichen Europa ist Rumänien ein gern genutzter Ort, um Arbeit auszulagern oder auch billig Filme zu produzieren. Hier kommt Uwe Boll ins Spiel, dem Angela in einem Filmstudio außerhalb Bukarests begegnet, wo der deutsche Filmemacher gerade vor Green Screens einen wüsten Actionfilm inszeniert. In einer wunderbaren Szene darf der gern als „schlechtester Regisseur der Welt“ bezeichnete Boll dann von seinem legendären Boxkampf gegen Filmkritiker erzählen. Offen bleibt, ob er hier tatsächlich genug Ironie besitzt, um sich über sich selbst lustig zu machen.

    Nina Hoss und ein komplexer Blick auf die moderne Arbeitswelt

    Substanzieller ist der Auftritt einer anderen Deutschen: Nina Hoss. Die Figur der mehrfach preisgekrönten Schauspielerin („Barbara“, „Tár“) heißt tatsächlich Doris Goethe und ist angeblich weit und entfernt mit dem deutschen Dichterfürsten verwandt. In dem Wust an Ideen, Verweisen und Assoziationen, den Radu Jude entfaltet und auf das Publikum loslässt, ist das einerseits nur eine von vielen Fußnoten. Genau diese sind es aber, die den Reichtum dieses besonderen Films ausmachen.

    Etwas lang ist „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit seinen 160 Minuten so zwar geraten und mit zunehmender Dauer wirken manche Szenen etwas repetitiv. Doch gerade im finalen zweiten Teil wird Judes komplexer Blick auf die Realität deutlich. Hier zeigt der rumänische Regisseur die Dreharbeiten zu einem Video über Sicherheit am Arbeitsplatz. Wir sehen, wie ein durch einen Unfall an den Rollstuhl gefesselten Arbeiter seine Geschichte erzählen soll, aber so, dass der Auftraggeber – ein internationaler Konzern – gut dabei wegkommt. Nicht mehr als ein Spielball ist der Arbeiter, doch ausgenutzt wird er von vielen: dem Konzern, aber auch von den Rumänen, dem Filmteam, letztlich auch von Angela. Sie alle unterwerfen sich fremden Interessen und lassen sich freiwillig zum Teil der Globalisierung machen.

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    Auch Nina Hoss hat einen Auftritt.

    Ganz freiwillig ist es natürlich nicht, wie auch deutlich wird. Denn da Arbeit in Rumänien rar und schlecht bezahlt ist, lässt sich der Verführung durch einen der besser bezahlten, aber vielleicht fragwürdigen Jobs für einen internationalen Konzern kaum widerstehen. Gerade weil er auf solche moralischen Fallstricke hinweist und nicht einfach platt Schuld zuweist, zeigt Radu Jude die Komplexität der modernen Arbeitswelt. Die sucht sich einerseits nämlich immer neue Opfer, findet andererseits aber auch immer neue Länder und deren Bevölkerung, die sich sehr gern benutzen lassen (solange das Gehalt stimmt).

    Fazit: Auch mit seinem neuen Film „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ erweist sich Radu Jude als einer der interessanten Regisseure des zeitgenössischen Kinos, der mit seiner ganz eigenen Mischung aus narrativem, dokumentarischem und experimentellem Kino politische Filme dreht, die dennoch sehr komisch und unterhaltsam sind.

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