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    The Other Side of the Wind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    The Other Side of the Wind

    Ein faszinierendes Meta-Drama von Orson Welles

    Von Michael Meyns

    Der legendäre Regisseur Orson Welles („Citizen Kane“) ist seit 1985 tot, so dass man nicht mehr hoffen durfte, noch jemals einen neuen Film von ihm zu sehen. Dass nun aber doch ein solcher erscheint, ist Netflix zu verdanken. Der Streaminggigant finanzierte den Versuch, Welles' seit Mitte der 70er Jahre unvollendet in Archiven liegendes Projekt „The Other Side Of The Wind“ im Sinne des Filmemachers zu beenden. Das Meta-Drama über einen alternden Regisseur, der versucht, sein letztes großes Projekt fertigzustellen, erlangte dabei über die Jahre zunehmend mythischen Status – und nun muss man sagen: Es wäre am besten auch im Reich der Legenden geblieben. Denn was nun zu sehen ist, fühlt sich zwar in Momenten wie ein Welles-Film an, ist aber als eigenständiges Werk nur bedingt gelungen.

    Noch vor dem Vorspann informiert uns eine Stimme (Peter Bogdanovich): Der legendäre Regisseur Jake Hannaford (John Huston) ist an seinem 70. Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Danach sehen wir, wie Hannaford in den Monaten vor seinem Tod versuchte, mit einem Film voller plakativer Nacktheit und Gewalt sein Comeback in der Filmindustrie zu feiern. Doch Hauptdarsteller Oscar Dale (Bob Random) hat das Set aus unerklärlichen Gründen verlassen und so steht das Projekt auf der Kippe. Bei einer ausufernden Party in seinem Haus in den Hollywood-Hills versucht Hannaford mit einer Vorführung des bisher gefilmten Materials, Investoren für eine Fertigstellung zu finden. Dabei wird auch die Party selbst mit allerlei Kameras eingefangen. Mit den Unmengen an Aufnahmen, die dabei entstehen, sollen nach Hannafords Tod dessen letzte Tage rekapituliert werden.

    Orson Welles‘ Debüt „Citizen Kane“ wird immer wieder als bester Film aller Zeiten bezeichnet. Sein zweites Werk „Der Glanz des Hauses Amberson“ gilt dagegen als Paradebeispiel für einen Film, der vom Profitdenken des Hollywood-Systems ruiniert wurde und ist der erste Eintrag in einer sehr langen Liste von Projekten, die Welles begann, aber entweder gar nicht oder nur in verstümmelter Form fertigstellen konnte. So zählt die bekannte Filmdatenbank IMDb bei Welles unter dem Posten Regie ganze 54 Werke auf, doch schaut man sich die Liste genauer an, kommt man – je nachdem, was man als wirklich fertiggestellt ansieht – auf maximal zwölf Langfilme.

    1965, also 20 Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Welles mit der Shakespeare-Verfilmung „Falstaff“ (auch bekannt als „Glocken um Mitternacht“) seinen letzten Kinofilm, den er auch wirklich selbst fertigstellte. Zwischen 1970 und 1976 drehte Welles an die 100 Stunden Material für sein geplantes großes Hollywood-Comeback: „The Other Side Of The Wind.“ Wie schon der Inhaltsabriss in dieser Kritik erahnen lässt, ist die Geschichte eines visionären Regisseurs, der am Profitdenken des Hollywood-Systems scheitert und ohne Rücksicht auf Verluste versucht, seine Vision auf die Leinwand zu bringen, offensichtlich autobiographisch. Die Geschichte ist aber auch von der Legende durchzogen, die Welles schon damals gern bediente: dem Mythos des genialen Regisseurs, der von den Anzugträgern des Systems daran gehindert wird, grandiose Filme zu drehen. Diese Legende wird gerne wiederholt, ist aber zu schön, um wahr zu sein. Denn sie ignoriert, dass Welles oft schlicht den Fokus verlor und Projekte deswegen auf halber Strecke strandeten. Er widmete sich lieber einer neuen Idee, als eine angefangene zu Ende zu bringen. Lieber hatte der Regisseur viele Bälle in der Luft, als einen durch den häufig eben auch ermüdenden Schnitt-Prozess zu begleiten.

    „The Other Side Of The Wind“ ist durch und durch vom Mythos des genialen Welles durchzogen. Der für „The Hurt Locker“ mit dem Oscar prämierte Cutter Bob Murawski griff für seinen Schnitt zwar auf Notizen von Welles zurück, aber mehr als eine Annäherung an dessen wirkliche Vision kann das unrunde Ergebnis natürlich nicht sein. Gerade der Schnitt beißt sich oft mit den starken Bildern, schmälert deren Wirkung massiv, statt sie zu verstärken. „The Other Side Of The Wind“ ist daher kein guter, stringenter Film, sondern viel mehr ein Faszinosum. Es ist für Cinephile eine Freude, teilweise schon lange verstorbene Schauspieler und Regisseure wie John Huston, Dennis Hopper, Paul Mazursky, Claude Chabrol, Peter BogdanovichLilli Palmer oder Mercedes McCambridge in teils winzigen Auftritten zu sehen. Auch die Bezüge zu Welles‘ Leben und Karriere sind spannend und vielschichtig.

    Doch am Ende begeistert dann nicht der auch jetzt noch unfertige Film, sondern die wahre Faszination ergibt sich aus den Umständen seiner jahrzehntelangen Genese. Die wurde schon in Büchern beschrieben und ist nun auch bei Netflix noch einmal Thema: Parallel erscheint dort Morgan Nevilles („20 Feet From Stardom“) Dokumentation „Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin“. Und während Welles‘ „The Other Side Of The Wind“ trotz aller Schwächen natürlich ein Pflichtprogramm für Cinephile ist (aber jeden Gelegenheitszuschauer in den entnervten Abbruch treiben wird), gelang Neville mit seiner begleitenden Dokumentation ein wirklich guter Film. Denn dort wird gezeigt, warum Orson Welles auch 30 Jahre nach seinem Tod immer noch so fasziniert – sicher auch deswegen, weil die Regielegende so viel mehr Filme begann, als beendete.

    Fazit: Der über 30 Jahre nach dem Tod von Orson Welles nun von fremder Hand fertiggestellte „The Other Side Of The Wind“ ist mehr ein Faszinosum als ein wirklich guter Film. Die Geschichte dahinter ist spannender als der Film selbst.

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