Das Leben in all seinen Schattierungen
Von Christoph PetersenDer im ersten Moment sicherlich etwas kryptisch anmutende Titel von Lu Zhangs Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „The Shadowless Tower“ bezieht sich auf den berühmten Tempel der weißen Pagode in Peking. Als der geschiedene Restaurantkritiker Gu Wentong (Bai Qing Xin) mit der um einiges jüngeren Ouyang Wenhui (Yao Huang), welche die Fotos für seine Artikel schießt, in der Nähe des Tempels spazieren geht, fällt ihnen auf, dass der Turm gar keinen Schatten wirft – oder dieser zumindest erst so weit entfernt auf den Boden fällt, dass man ihn gar nicht mehr mit der Pagode in Verbindung bringt.
Rein physikalisch gesehen ist das wahrscheinlich ziemlicher Unsinn. Aber es ist trotzdem die perfekte Metapher für einen Film wie „The Shadowless Tower“, der sich vor allem dafür interessiert, wie sich Leben und Beziehungen selbst über große Entfernungen oder sogar Jahrzehnte hinweg beeinflussen, also für nicht weniger als das, was ein Leben in seiner ganzen Komplexität ausmacht. Das klingt nach harter Kost, erst recht wenn der Film dann auch noch knapp zweieinhalb Stunden lang ist. Aber der koreanisch-chinesische Autorenfilmer Lu Zhang geht mit einer anregenden Leichtfüßigkeit ans Werk, die einen regelrecht durch den Film hindurchschweben lässt.
Die Beziehung von Gu Wentong (Bai Qing Xin) und Ouyang Wenhui (in der Mitte: Yao Huang) erinnert zwar an quirlige RomComs, hat dabei aber auch eine spannend-ambivalente Note.
Seit seine Exfrau und er sich vor zwei Jahren scheiden ließen, lebt Gus kleine Tochter Xiao Xiao (Yiwen Wang) bei der kinderlosen Schwester ihres Vaters und deren Ehemann. Gu ist derweil auf seinen Dates mit Ouyang Wenhui unterwegs, wobei nicht ganz klar ist, ob sie wirklich auf ihn steht oder nicht doch eher einem Komplex nachhängt, weil sie selbst ohne Vater im Waisenhaus aufgewachsen ist. Zudem erhält der Restaurantkritiker eine Info über den Aufenthaltsort seines eigenen Vaters Gu Yunlai (Zhuangzhuang Tian), den er seit 40 Jahren nicht mehr gesehen hat. Damals musste dieser für ein Jahr in ein Straflager, weil er im Bus angeblich eine Frau begrabscht hat, was er aber stets abgestritten hat…
Die im Kino in dieser Form selten gesehene Patchwork-Situation wäre sicherlich einen eigenen Film wert, von der Aufarbeitung des Verhältnisses zum lange abwesenden Vater mal ganz zu schweigen. Die unvorhersehbaren Dates mit der jungen Kollegin böten unterdessen genug Stoff für eine quirlig-romantische Komödie. „The Shadowless Tower“ ist voll von potenziellen Konflikten – es gibt sogar einen plötzlichen Selbstmord und eine unheilbare Krebserkrankung.
Aber Lu Zhang scheint sich kaum für Konfrontationen oder Auflösungen zu interessieren: Mehrfach fährt Gu in die 300 Kilometer entfernte Küstenstadt Beidaihe, um dort seinen Vater heimlich beim Drachensteigen zu beobachten. Aber den „großen“ Moment des Wiedersehens „verpasst“ der Film einfach, stattdessen sehen wir Vater und Sohn einfach irgendwann, wie sie bereits wieder einigermaßen vertraut miteinander umgehen.
Gu lässt sich vom Leben treiben – genau wie das Publikum durch den Film.
Es wirkt nie unfokussiert, wenn Lu Zhang seinen Protagonisten dabei zeigt, wie er mit seiner alten Jugendfreund-Clique etwas Trinken geht, seine Ex-Frau im Krankenhaus besucht oder seinem Untermieter aushilft, der gerade an seiner schlechtlaufenden Model-Karriere zu zerbrechen droht. Ganz im Gegenteil: „The Shadowless Tower“ fließt mit einer solchen Klarheit und Wahrhaftigkeit dahin, dass einem zwischendrin kaum auffällt, dass hier offensichtliche Haupthandlungen ebenso wie vermeintliche Nebenstränge mit derselben beflügelnden Beiläufigkeit erzählt werden.
Das Peking des Films ist dabei übrigens oft wunderschön anzusehen. Der 1962 geborene Lu Zhang ist ein etablierter Autorenfilmer, dessen Filme schon mehrfach in anderen Sektionen auf der Berlinale gezeigt wurden – es macht also total Sinn, dass er mit seinem neuen Film nun in den Wettbewerb „befördert“ wurde. Zugleich erwarten – gerade europäische – Festivals oft immer noch ein ganz bestimmtes China-Bild, das in „The Shadowless Tower“ allerdings konsequent unterlaufen wird: Gus Schwager fährt ein sehr schicken SUV und die Klamotten von Gu und noch mehr von Ouyang Wenhui könnten auch aus einem Modekatalog stammen. Nach Jahrzehnten von zu viel Grau im chinesischen Arthouse-Drama ist ein bisschen zu viel Farbe auf jeden Fall eine willkommene Abwechslung.
Fazit: Mit einer geradezu schwebenden Leichtigkeit entwirft Regisseur Lu Zhang um seinen Protagonisten Gu ein Beziehungsgeflecht von im Kino selten erlebter Feingliedrigkeit. In „The Shadowless Tower“ geht es nicht um den einen großen Schatten, den ein Mensch hinterlässt, sondern um all die vielen kleinen, die das Leben in all seiner berührenden und tragischen Komplexität ausmachen.
Wir haben „The Shadowless Tower“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.