Eine Meisterin der Schocks
Von Janick NoltingDie Szenen dieses Films sind von einem solchen Grauen durchzogen. Es ist schlicht unglaublich, welche Anspannung Déa Kulumbegashvili kreiert, ohne sich dabei den Formeln des Genrekinos zu bedienen. Oder müsste man „April“ nicht doch eigentlich als Horrorfilm bezeichnen? Der Regisseurin geht es vielleicht nicht darum, dem Publikum reißerisch Angst einzujagen, aber sie zeigt den puren gesellschaftlichen Schrecken, der in alten sexistischen Denkmustern und Repressalien lauert. Die georgische Autorenfilmerin vermittelt ihn in einer bezwingenden, raffinierten Formensprache. Und zumindest ein Motiv ist doch ganz dezidiert dem Genrekino entlehnt. Es schafft immer wieder eine albtraumhafte Zäsur in diesem grandiosen, erschütternden Film.
Gleich in der allerersten Einstellung erscheint es auf der Leinwand vor pechschwarzem Hintergrund: ein monströses Wesen. Ein nackter, deformierter Körper. Menschenähnlich, doch ihm fehlen Augen und Mund. Zugleich ist da ein bedrohliches Atmen und Keuchen, das aus ihm dringt. Hat man eine Weile zugesehen, wie das Monstrum durch die Dunkelheit watet, zeigt „April“ die Aufnahme von fallendem Regen, der auf die Pfützen am Boden prasselt. Gerade hat man sich an dieses Bild gewöhnt, da konfrontiert einen die Regisseurin mit der expliziten Aufnahme einer menschlichen Geburt, aus der sich die Handlung des Films entspinnen wird.
Ein Neugeborenes ist verstorben. Ermittlungen stehen an. Was ist bei der Geburt schiefgelaufen? Hätte es ein Kaiserschnitt sein müssen? Warum hat man dem aussichtslosen Wunsch der Mutter nach einer natürlichen Geburt nachgegeben? Gegen die Gynäkologin Nina (Ia Suchitaschwili) wird eine Ermittlung eingeleitet. Ohnehin stehen gegen die Ärztin Vorwürfe im Raum: Angeblich soll sie im Dorf heimliche Abtreibungen durchführen – ein Tabu in der georgischen Provinz. Ninas gesamte Existenz steht jetzt auf dem Spiel…
„April“ ist neben „Niemals Selten Manchmal Immer“ oder auch „Das Ereignis“ aus den vergangenen Jahren ein weiterer herausragender Film zum Thema Abtreibung, wenngleich man ihn nicht darauf reduzieren sollte. Er führt dem Publikum die Qualen betroffener Frauen vor Augen, die entweder keine Mittel und Möglichkeiten haben, eine Abtreibung durchführen zu lassen, oder die sich aufgrund ihrer Lebensumstände gezwungen sehen, den Eingriff vornehmen zu lassen, aber mit den ihnen in den Weg gestellten Hürden zu kämpfen haben. Das bedeutet zunächst, die lapidare Vorstellung jener Abtreibungsgegner*innen einzureißen, die eine Entscheidung zu diesem Eingriff als vermeintliche Bagatelle abtun oder sie kriminalisieren wollen.
Die patriarchale, frauenfeindliche und von religiösen Dogmen durchzogene Welt, die „April“ durchleuchtet und kritisiert, kennt für Betroffene so oder so nur Verachtung. Eine Abtreibung gilt darin als sündhaft. Verhütung – „April“ zeigt das anhand der Einnahme der Pille – ist ebenfalls mit Tabus behaftet. Umgekehrt kann eine ungewollte, uneheliche Schwangerschaft zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen, die Gewalt und den Hass der Männer auf sich ziehen. Zwischen dem Gesetz und den gesellschaftlich gelebten Sitten tut sich in „April“ ein zermürbendes Spannungsfeld auf.
Nina, die Protagonistin, gibt sich alle Mühe, den betroffenen Frauen in den verarmten Provinzdörfern zu helfen. Ihr Idealismus lässt sie nicht ruhen, auch wenn sie sich immer stärker den Attacken ihres männerdominierten Umfeldes ausgesetzt sieht. Die engagierte Ärztin ist ihnen ein Dorn im Auge und wird als Gefahr gesehen. Was „April“ somit auffächert, mag als Sujet nicht neu oder als Statement originell sein, aber dieser Film ist ungemein konfrontativ und ausdrucksstark inszeniert. Déa Kulumbegashvili gelingt auf formaler Ebene tatsächlich eine produktive Verunsicherung und Verstörung, die es wahrscheinlich braucht, um bei diesem sensiblen Thema ein Bewusstsein für die gezeigten Lebensrealitäten in all ihren komplizierten Verwicklungen und Widersprüchen zu schaffen.
Man könnte für „April“ zunächst das Schlagwort Slow Cinema gebrauchen. Zumindest in dem Sinne, dass der Film seinen Plot einem Aushalten von raumzeitlichen Wirkungen und uneindeutigen emotionalen Zuständen unterordnet. Die statischen Einstellungen dieses Films werden teils minutenlang gedehnt und dennoch erscheint „April“ dadurch keineswegs träge oder langweilig. Stattdessen entwickelt sich gerade in jener Dauer eine immense Spannung, ein immenser Horror. Déa Kulumbegashvili versteht es nämlich bestens, in der Komposition der Aufnahmen ein Ungleichgewicht herzustellen, eine Ordnung unbehaglich werden zu lassen. Etwa, indem sie Figuren an die Ränder der Bilder drängt, umgeben von totem Raum.
Oder indem sie der Kamera einen Subjektstatus verleiht. Immer wieder scheinen die Einstellungen mit der Perspektive von Figuren zu verschmelzen. Ihre Präsenz ist spürbar. Über das Sprechen, über das Atmen. Manchmal ragt eine Hand ins Bild oder Menschen sprechen direkt in die Kamera, ehe enthüllt wird, dass dort nicht nur der technische Apparat, sondern ein Gegenüber ist. „April“ übersetzt in seinen Kamerapositionen und dem Gespenstisch-Werden der Figuren eine Unsichtbarkeit weiblicher Perspektiven in ein audiovisuelles Spiel. Aber auch die permanent anwesende, strukturelle Gewalt von Männern! Der Film bezieht das Publikum hier kompromisslos und provokant mit ein und bricht das Zusehen selbst.
Und er zeigt permanent, wie schnell diese Szenen zur Eskalation neigen. Plötzlich kommt es zu einer Spuckattacke oder Handgreiflichkeiten. Oder eine ruhige Aufnahme schaltet auf laute Klangwelten um. Das Mittel des Jumpscares ist durch zahllose generische Horrorfilme mittlerweile in Verruf geraten. Déa Kulumbegashvilis Werk ist jedoch der beste Beweis, welche Intensität sich in einem solchen Erschrecken kreieren lässt. Wer ihr Erstlingswerk „Beginning“ gesehen hat und sich an dessen Eröffnungssequenz erinnert, hat bereits einen Vorgeschmack bekommen, wie eindringlich sie in ihren streng gerahmten Tableaus das Chaos ausbrechen lassen kann. Die Regisseurin bedient ihre Schockmomente auch in „April“ meisterhaft, um das Plötzliche im Alltag ihrer Figuren auch körperlich spürbar werden zu lassen.
Überhaupt ist der Körper das Stichwort: der weibliche Körper als umkämpftes Gebiet, der malträtiert wird, leidet, um Autonomie kämpft, der Leben gebiert. „April“ scheut sich nicht, auch bei Szenen länger hinzusehen, bei denen andere Filme gern wegblenden, seien es die Geburten oder auch eine zehnminütige Abtreibungssequenz im Mittelteil des Films. Es gehört zu dessen konfrontativer Ästhetik, solche Momente ganz ungeschönt auszureizen, wenngleich sie gerade bei der erwähnten Abtreibung durch die Wahl des Ausschnitts einen angemessenen Rest Diskretion walten lassen.
Natürlich gehört auch das eingangs beschriebene Monster zu dieser Form der körperlichen Drastik. „April“ lässt offen, ob es sich dabei um ein imaginiertes Selbstbildnis der Protagonistin handelt, ob es ein Gefühl der Heimsuchung und des Kontrollverlustes in ihrem Leben visualisiert. Oder ob es schlicht ein surreales Zerrbild dessen abgibt, wie manche Männer den weiblichen Körper und Weiblichkeit als Zuschreibung mit dem Monströsen, Fremden und Anderen in Verbindung bringen.
Fazit: Nach ihrem Debüt „Beginning“ avanciert Déa Kulumbegashvili endgültig zu einer der interessantesten europäischen Autorenfilmer*innen der Gegenwart. „April“, beim Filmfest in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, ist ein konfrontatives, formal ausgefeiltes und hochintensives Drama über weibliche Kämpfe gegen soziale Tabus, Normen und um körperliche Selbstbestimmung.
Wir haben „April“ beim Filmfest Venedig gesehen, wo er seine Weltpremiere im offiziellen Wettbewerb gefeiert hat.