Der gruseligste Film des Jahrzehnts? Auf jeden Fall anders als gedacht!
Von Björn BecherIn den vergangenen Jahren haben sich die Marketing-Verantwortlichen gerade im Horror-Genre mit kreativen Werbekampagnen überboten. Ein Höhepunkt war etwa, als im Vorfeld des Kinostarts von „Smile“ plötzlich psychopathisch grinsende Zuschauer*innen in Sportstadien auftauchten und das komplette Spiel hindurch ihre verstörende Mimik aufrechterhielten. Auch bei „Longles“ setzt man nun auf ein kluges Marketing. Schon weit vor Kinostart ging eine Webseite in der Aufmachung einer mehr als 20 Jahre alten Internetpräsenz online. Dort wurden Hinweise zu einem angeblichen Serienkiller offenbart. Über Wochen hinweg konnten man sich einen Spaß daraus machen, diese zu analysieren, dabei nach und nach veröffentlichte Audio- und Bilddateien freischalten und mysteriöse Botschaften entschlüsseln.
Doch der größte Marketing-Coup ist, dass ausgerechnet der größte Star des Films in Trailern und den ersten Szenenbildern versteckt wird – wobei es doch üblich wäre, ihn groß in den Mittelpunkt zu stellen. Regisseur Oz Perkins will, dass das Publikum erst beim Kinobesuch erfährt, wie Nicolas Cage als titelgebender Serienkiller aussieht. Natürlich sorgte gerade dieses Versteckspiel noch einmal für besondere Aufmerksamkeit, weil nun alle erst recht spekulieren, wie abgefahren sich der wandelbare Oscarpreisträger hier wohl präsentiert. Eine Antwort darauf liefert der Film schon im Prolog - zumindest wenn man nicht im falschen Moment blinzelt.
Regisseur Perkins macht ohnehin eine Sache früh deutlich: Für einen Kassenerfolg braucht man vielleicht solche Werbe-Spielchen, aber sein ebenso unglaublich unheimlicher wie imposant präzise inszenierter Horror-Thriller hat eigentlich gar keine Gimmicks nötig. Der vorab schon als „gruseligster Film des Jahrzehnts“ gehypte und auch wirklich hervorragende Thriller steht für sich selbst ….
…. wobei eine Warnung an dieser Stelle trotzdem noch ausgesprochen sei: Völlig unabhängig von der Enthüllung von Cages Aussehen entfaltet „Longlegs“ wahrscheinlich die allergrößte Wirkung, wenn man rein gar nichts darüber weiß, sich einfach nur in den großartig Angst einflößenden Sog ziehen lässt, den Perkins schon während der Auftaktminuten entfaltet. Das Weiterlesen vor dem dringend empfohlenen Kinobesuch erfolgt daher auf eigene Gefahr!
Als die junge FBI-Agentin Lee Harker (Maika Monroe) bei einem Routine-Einsatz hellseherische Fähigkeiten beweist und direkt das Haus identifizieren kann, in dem sich ein gesuchter Mörder versteckt, wird der erfahrene Agent Carter (Blair Underwood) auf sie aufmerksam. Er holt sie als Unterstützung zu einem Fall, der dem Büro schon seit 30 Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Untersucht wird eine Reihe von Taten, in denen Familienväter bestialisch ihre Frau, die Kinder und schließlich sich selbst hingerichtet haben. Dass es überhaupt offene Mordfälle sind, die alle ein- und demselben Serienkiller zugeschrieben werden, liegt an mysteriösen Briefen, die an jedem Tatort gefunden wurden. Die bislang nicht entschlüsselten Botschaften sind alle mit „Longlegs“ unterschrieben. Eine weitere Gemeinsamkeit der rätselhaften Taten: Teil jeder toten Familie ist ein kleines Mädchen, welches in allen Fällen am 14. des Todesmonats Geburtstag hat.
Die außer gelegentlichen Gesprächen mit ihrer streng religiösen Mutter (Alicia Witt) über kein Sozialleben verfügende Harker stürzt sich umgehend in die Akten. Innerhalb kurzer Zeit gelingt es zur Verwunderung ihres Bosses, die Nachrichten des Killers zu entschlüsseln und zu erkennen, dass auch das Datum der Mordtaten einem Muster folgt. Dabei verschweigt Harker allerdings, dass ihr der Durchbruch nicht nur aufgrund ihrer übersinnlichen Begabung und ihren genialen Kombinationsfähigkeiten gelang. Der Killer (Nicolas Cage) hat sie mit einem eigenen Brief kontaktiert, den sie als Ausgangspunkt für seinen Geheimcode nutzen konnte. Mit den neuen Erkenntnissen nimmt die seit langer Zeit stockende Ermittlung wieder Fahrt auf - vor allem, als plötzlich auch noch die einzige Überlebende (Kiernan Shipka), die seit über einem Jahrzehnt stumm in der Psychiatrie sitzt, eine Botschaft für Harker offenbart...
Dass „Longlegs“ in den 1990er-Jahren spielt, die besonders legendäre Serienkiller-Jagden wie „Das Schweigen der Lämmer“ und „Sieben“ hervorbrachten, sollte einen nicht in die Irre führen. Obwohl Oz Perkins („Die Tochter des Teufels“, „Gretel & Hansel“) bei seinem vierten Spielfilm als Regisseur Versatzstücke solche Vorbilder aufgreift und variiert, lässt sich „Longlegs“ dort genauso wenig einsortieren wie im Genre klassischer Horror-Schocker. Der Sohn von „Psycho“-Ikone Anthony Perkins zeigt in seinem neuen Werk zwar sowohl klassische Ermittlungsarbeit wie auch Jump Scares und sehr explizite Gewaltausbrüche. Doch vor allem fesselt er mit einer einnehmenden Atmosphäre, die von der ersten Sekunde an eine Anspannung aufbaut, der man sich nur schwer entziehen kann.
In einem engen quadratischen Bildformat beobachten wir im Prolog gemeinsam mit einem jungen Mädchen durch einen Vorhang, wie sich ihrem abgelegenen Haus ein Auto nähert. Obwohl es keinen weiteren Kontext gibt, wird allein durch die Inszenierung klar, dass hier etwas Böses kommt. Niemand scheint da zu sein, um es aufzuhalten. Niemand wird etwas davon wissen. Es wird so direkt ein anspannendes Unbehagen aufgebaut, welches auch nach der Titeleinblendung mit einem sich langsam auf das übliche breite Kinoformat ziehenden Bild zum Dauergefühl wird und in keinem Moment des Films mehr verschwindet.
Geschickt hält Perkins die Anspannung durch seine Bildsprache und vor allem auch den unglaublich klug gewählten Einsatz von Sound in jeder noch so banalen Szene des Films hoch. Mit äußerster Sorgfalt sind dazu die Personen im Raum platziert und es wird präzise ausgewählt, was die Kamera uns zeigt. Immer wieder ist die offene Tür im Hintergrund von Harker zu sehen. Immer wieder müssen wir befürchten, dass sich auch hier das unaufhaltsame Böse nähern wird und niemand ihr beistehen kann. Ein unglaublich beklemmendes Gefühl ist so ständiger Wegbegleiter, „Longlegs“ wird zur körperlichen Erfahrung, von der man sich am Ende erst einmal frei schütteln muss – woran Perkins übrigens auch gedacht hat: Der im Abspann erklingende, auch in vielfacher Hinsicht bemerkenswert passende 1970er-Hit „Bang A Gong (Get It On)“ der Glam-Rocker T. Rex hat als beschwingter Gute-Laune-Ausklang eine regelrecht kathartische Wirkung.
Selbst in den zahlreichen kurzen humorvollen Einschüben lässt Perkins bis dahin das Luftholen nicht wirklich zu. „Muss ich?“, fragt Harker ihren Boss, als dieser sie nach langem Arbeitstag kurz in sein Haus bittet, um sie seiner Familie vorzustellen. Obwohl es da angesichts ihrer Unbeholfenheit kurz einen befreienden Lacher gibt, ist die Anspannung trotzdem weiter da: Fremdelnd sitzt sie auf dem Bett von Carters kleiner Tochter und weiß nicht, wie sie ein Gespräch mit dem kleinen Mädchen führen soll. In diesem Moment ist eigentlich nichts gruselig, nichts bedrohlich. Doch weil es für die sozial inkompetente Agentin der reine Horror ist, hier mit einem Kind interagieren zu müssen, gewinnt der Moment an Intensität. Und subtil schwingt im Hintergrund mit, dass genau solche, scheinbar völlig heile und sichere Familienwelten die Schauplätze der grausamen Taten von Longlegs waren. Kann dieser Ort also überhaupt Sicherheit vermitteln? Oder lauert nicht auch hier die unaufhaltsame Gefahr?
In der Hauptrolle von „Longlegs“ brilliert Maika Monroe. Nach dem gefeierten „It Follows“ von 2014 wurde ihr eigentlich eine große Karriere als neue „Scream Queen“ prophezeit, doch daran anknüpfen konnte sie in den vergangenen zehn Jahren nicht wirklich. Umso lauter ist der Paukenschlag, mit dem sie sich nun zurückmeldet – gerade weil es eine Performance voller kleiner, leiser Momente ist. Eigentlich taugt diese Lee Harker nicht zur Identifikationsfigur. Es wirkt fast schon suspekt, wie wenig Mitgefühl sie zeigt, wie apathisch sie anfangs bisweilen bleibt. Doch geschickt offenbart Monroe mit minimalen mimischen Veränderungen das Bröckeln dieser Fassade – bis hin zum befreienden Wutschrei. Großes Kino dabei: Ein kurzer Besuch bei der Mutter entpuppt sich fast als eigener Horrorfilm über eine Familie, die man sich ja bekanntlich nicht aussuchen kann – wobei hier an der Seite von Monroe auch der ehemalige Kinderstar Alicia Witt (David Lynchs „Dune“) brilliert und völlig neue schauspielerische Seiten offenbart.
Doch natürlich müssen wir auch über den Elefant im Raum sprechen: Nicolas Cage. Viel wird sich über seine Verwandlung bis an die Grenze zur Unkenntlichkeit geredet werden – und viele werden daran scheitern, sie einzuordnen. Klar kann man sagen, dass er aussieht wie Mickey Rourke mit noch ein paar missratenen Schönheitsoperationen mehr. Aber damit werden direkt viele Facetten der Figur ignoriert – wie zum Beispiel die sehr feminine Seite, die sich unter anderem in den roten Lippen offenbart, oder die bleiche Haut, die ihn wirken lässt, als sei er aus der Welt gefallen.
Was man aber festhalten kann: Es ist eine echte Cage-Performance für die Ewigkeit, die sich nicht wie sonst so oft im wilden Agieren offenbart. Es ist vor allem die Stimme des „Con Air“-Stars, die Longlegs so besonders macht. Weich bis verletzlich in einem Moment und rau bis gefährlich im nächsten – Cage beschert uns die ganze Bandbreite, wechselt oft mitten im Satz Stimme samt Höhe und gibt seiner psychopathischen Figur plötzlich eine neue Persönlichkeit. Dieser Longlegs wird in die Kino-Serienmörder-Geschichte eingehen – obwohl er so wenig greifbar bleibt und das ja ohnehin am Ende unerklärliche Böse hier auch völlig konsequent nicht entmystifiziert wird.
Fazit: Als „gruseligster Film des Jahrzehnts“ wurde „Longlegs“ in den ersten Stimmen nach der Weltpremiere bereits gelobt – und das neue Werk von Oz Perkins wird diesem Hype durchaus gerecht. Der Regisseur erreicht die hohe Qualität aber weniger durch die klassischen Horrorszenen und die (durchaus vorhandenen) expliziten Gewaltmomente, sondern vor allem durch das grandiose Zusammenspiel von Bild, Ton und dem exzellenten Cast, das ein ständiges Gefühl der Angst und so einen dauerhaften Zustand der Anspannung erzeugt. Das drastische Finale mit dem unglaublich passenden Abspannsong „Bang A Gong (Get It On)“ ist schließlich die ultimative Befreiung – und damit das Pünktchen auf dem i.
P.S.: Wir haben „Longlegs“ in der englischen Originalfassung gesehen. So gute Arbeit Martin Keßler seit drei Jahrzehnten als deutsche Stimme von Oscarpreisträger Nicolas Cage auch leistet, können wir uns nur schwer vorstellen, dass diese Performance in einer synchronisierten Version noch genauso eindrucksvoll ausfällt. Wenn ihr die Möglichkeit habt, schaut „Longles“ also möglichst im Original.