Mein Konto
    Zwischen uns das Leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Zwischen uns das Leben

    Geteilte Einsamkeit

    Von Christoph Petersen

    Zuletzt hat der französische Regisseur Stéphane Brizé („Ein Leben“) eine Trilogie über die dunklen Seiten internationaler Großunternehmen abgeliefert: In „Der Wert des Menschen“, „Streik“ und „Another World“ verkörpert Vincent Lindon jeweils ein Rädchen auf verschiedenen Ebenen des Systems – einen Arbeitslosen, einen Gewerkschafter und schließlich einen Fabrikboss, die allesamt an der menschenfeindlichen Anonymität solcher grenzüberschreitenden Firmen-Konstrukte zugrunde gehen. Aber wie bei so vielen von uns ist auch Brizés Blick während der Corona-Lockdowns vom Big Picture wieder ein Stück weit ins Nahe und Private gewandert.

    Herausgekommen ist ein schmerzhaft-zärtliches, auf schwer melancholische Weise aber auch optimistisches Drama: „Hors-Saison“ spielt zwar nicht während der Pandemie, handelt aber trotzdem von einer (selbstgewählten) Isolation. Wie Sofia Coppola in ihrem Meisterwerk „Lost In Translation“ inszeniert auch Brizé ein Hotel als einsamkeitsverstärkenden Nicht-Ort, nur dass der Effekt hier nicht durch eine Sprachbarriere, sondern durch die weitgehende Abwesenheit anderer Gäste erzielt wird. Schließlich ist der gefeierte Schauspieler Laurent (Guillaume Canet) ganz spontan und außerhalb der Saison in das luxuriöse Thalasso-Spa in einem kleinen Badeort an der Atlantikküste gereist.

    Alamode Film

    Kurz wirkt es so, als könnten Laurent (Guillaume Canet) und Alice (Alba Rohrwacher) gemeinsam ihrer Einsamkeit entfliegen. Aber wirklich nur kurz…

    Wobei der Trip eher einer Flucht gleichkommt: Der auf die 50 zugehende Kinostar wollte zum ersten Mal in seiner Karriere in einem Theaterstück mitspielen, hat aber nur vier Wochen vor der geplanten Premiere auf einer der Top-Bühnen von Paris kalte Füße bekommen. Zwar ist bereits geklärt, dass er alle entstandenen Kosten selbst schultern wird, aber seine Kolleg*innen sind trotzdem stinksauer – und Laurent, der sich mit dem Theatergig auch selbst etwas beweisen wollte, stellt sich die Frage, ob er nicht tatsächlich ein Loser ist?

    Zumindest haut das mit dem Entspannen bei den Massagen nicht wirklich hin – und die Bedienung einer lichtschrankenbetriebenen Espressomaschine erweist sich (sehr zur Belustigung des Publikums) sogar als mittelschwere Katastrophe. Doch dann erhält Laurent eine Nachricht: Die Klavierlehrerin Alice (Alba Rohrwacher), mit der er vor 15 Jahren mal zusammen war, wohnt mit ihrer Familie ganz in der Nähe – und hat zufällig mitbekommen, dass Laurent im Hotel abgestiegen ist. Das Treffen in einem kleinen Restaurant öffnet zwar alte Wunden, lässt zugleich aber auch die Wünsche und Hoffnungen von damals wieder aufkeimen…

    Die Zärtlichkeit zerborstener Träume

    Stéphane Brizé und sein Hauptdarsteller Guillaume Canet („Asterix & Obelix im Reich der Mitte“) nutzen die inhärente Absurdität (fast) leerstehender Hotels zu Beginn für ein paar trockene (Selfie-)Gags und das Etablieren einer melancholischen Atmosphäre. Aber so richtig zum Leben erwacht „Hors-Saison“ erst mit dem Auftauchen von Alba Rohrwacher („Glücklich wie Lazzaro“): Laurent und Alice sprechen zwar hauptsächlich sitzend an Restauranttischen oder im Auto miteinander, aber die Lebensklugheit ihrer Dialoge erinnert trotzdem an Richard Linklaters „Before“-Trilogie, in der Ethan Hawke und Julie Delpy stundenlang durch Wien oder Paris spazieren.

    Nach 15 Jahren kratzen die Gespräche natürlich zunächst nur sanft an der Oberfläche. Aber dann reichen sie doch immer tiefer (und schmerzhafter) – ohne dabei je etwas von ihrer trügerischen (?) Zärtlichkeit zu verlieren. Selbst wenn wir Laurents als Nachrichtensprecherin tätige Ehefrau einmal am Telefon hören und Alices Ehemann (Sharif Andoura) sogar in einigen Szenen zu sehen bekommen, ist „Hors-Saison“ im Kern – eigentlich! – ein ganz klassisches Zwei-Personen-Stück. Aber Pustekuchen!

    Von Magic Sports und Vogelgezwitscher

    Brizé schweift stattdessen immer wieder mal ab: Da erklärt der eh schon zu spätgekommene Personal Trainer seinem sichtlich skeptischen Kunden Laurent erst einmal ausführlich von der kürzlichen Begegnung mit einem Vogel, in dessen Augen er all die Reisen des Tieres erkennen konnte. Später folgt nicht nur ein minutenlanges, ungeschnittenes, von Alice aufgenommenes Handyvideo, in dem sie eine 78-jährige Heimbewohnerin kurz vor ihrer Heirat mit einer Frau nach ihrer Lebensgeschichte ausfragt …

    … sondern auch noch ein Teil der Hochzeitsfeier selbst, wenn zwei Entertainer ein nur aus Balzrufen aus der Vogelwelt bestehendes, zunehmend urkomisches Unterhaltungsprogramm abfeuern. (Ähnlich komisch ist sonst nur der Kellner, der so ausführlich erklärt, wie Fische in seinem Restaurant schmerzfrei getötet werden, dass wirklich jeder zum Vegetarier wird.) Ironischerweise unterstreichen diese vermeintlich aufbrechenden Blicke aber die geteilte Einsamkeit der zwei Protagonist*innen nur noch. Das hat man zwar (zumindest so ähnlich) sicherlich schon ein paar Mal gesehen, aber berührend ist es trotzdem.

    Fazit: Ein nicht sonderlich origineller, aber wahnsinnig zärtlicher Film über die Einsamkeit und das Bereuen, der vor allem dann begeistert, wenn er die (Selbst-)Isolation der Hauptfiguren aufbricht und seinen sonst so konzentrierten Blick plötzlich für einige Zeit abschweifen lässt.

    Wir haben „Hors-Saison“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top