Mein Konto
    The Bikeriders
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Bikeriders

    Marlon Brando für die heutige Generation!

    Von Kamil Moll

    Jede Jugendbewegung und jede Subkultur besitzt ein mythologisiertes Golden Age, einen Höhepunkt, auf den sich scheinbar alles hin entwickelt und von dem aus es nur noch wieder abwärtsgehen muss. „Es war eine goldene Zeit für Biker“, sagt Kathy (Jodie Comer) einmal zu dem Journalist Danny Lyon (Mike Faist) über die zweite Hälfte der Sechzigerjahre. Seit 1965 begleitet Danny die Motorradgang Vandals aus dem kleinen Ort Elmwood Park, einige Kilometer von Chicago entfernt. Er schießt Fotos von den Gangmitgliedern, führt mit ihnen und ihren Familien Interviews, wird später selbst Biker und Mitglied des Clubs. Seine Recherchen beginnt er, als die Vandals auf einem ersten Zenit ihrer Popularität in der Region und inmitten der zunehmend größer werdenden Motorradszene in den USA sind. Als er sie 1973 schließlich wieder verlässt, hat sich die Gang längst zerstritten und durch teils tödliche Auseinandersetzungen maßgeblich gewandelt.

    Auch wenn Jeff Nichols‘ „The Bikeriders“ die fiktive Geschichte einer Bikergang erzählt, die es so ähnlich in unzähligen amerikanischen Kleinstädten gegeben haben könnte, aber eben nicht gab, so existierte dieser Reporter tatsächlich. Danny Lyon veröffentlichte einen Bildband, nach dem Nichols‘ Film benannt wurde, und blättert man durch dieses Buch, so werden schnell die Parallelen erkennbar: von der Kamera eingefangene und herausgeforderte Posen und Blicke der Biker, die Patches und Embleme auf ihren Jacken, atmosphärische Schnappschüsse vom Hecksitz eines fahrenden Motorrads herunter – ein Panoptikum an visuellen Motiven, die Nichols in seinem Film immer wieder aufs Neue aufgreift und in Bewegung setzt.

    Universal Pictures Germany
    Benny (Austin Butler) und Kathy (Jodie Comer) vereint auch ihre Liebe für schnelle Zweiräder.

    Die Geschichte, die er aus diesen Bildern zieht und fortspinnt, wird in „The Bikeriders“ anhand von zwei Männern erzählt, die nicht zuletzt aufgrund ihres Altersunterschieds auch eine Ersatzversion von Vater und Sohn abgeben könnten: Johnny (Tom Hardy mit methodisch angelerntem Akzent des mittleren Westens) ist der Anführer und Gründer der Vandals. Eigentlich ein Truckfahrer im Button-down-Hemd mit Haus und Familie, der irgendwann abends „Der Wilde“ im Fernsehen sieht und in der Lederkluft, den Sprüchen und den Gesten von Marlon Brando so etwas wie einen möglichen Ausweg aus der eigenen bürgerlichen Existenz sieht.

    Und dann ist da Benny, Kathys Boyfriend – gespielt von Austin Butler, der nach dem Biopic „Elvis“ ein weiteres Mal den modernen Gewährsmann gibt für ikonische Stellvertreter aus den Anfangstagen jugendlicher Subkulturen. Butler verkörpert Benny als juvenil schweigsamen Taugenichts, aus dessen introvertierter Schönheit und körperlicher Präsenz der Film einen unmittelbaren, eigenen Reiz zieht, wie es selten geworden ist im Gegenwartskino. Nichols scheint das Tempo des Films immer wieder anzuhalten, in Blicken und Kleidern, verschwitzten Haarschöpfen und zerrupft wirkenden Jeansjacken zu schwelgen, so als wolle er sich letztlich nicht ganz lösen von Danny Lyons formvollendeten Fotografien.

    Universal Pictures Germany
    Austin Butler verschlägt es nach „Elvis“ erneut in die 1960er Jahre.

    Durch sein Äußeres und sein Charisma ist es Benny, der dem Club Legitimität und Wirkung verleiht, ein lebendiges Symbol dafür, dass wirkliches Außenseitertum nur für einen kurzen Moment in der Jugend erreichbar sein kann. Umso vehementer lehnt er deshalb Johnnys Bestrebungen, ihn zum neuen Anführer der Vandals aufzubauen, ab. Er verweigert sich den Pflichten und der festgefügten Rolle, die damit einhergehen würden – ein Konflikt, der schon früh das Ende der Gang besiegelt. Wie ein musikalisches Motiv zieht sich dabei der Sirenengesang der Mitte der 60er-Jahre immens erfolgreichen und prägenden Girl-Group The Shangri-Las durch den gesamten Film – das wortlose Intro ihres Songs „Out In The Streets“, dessen Vorahnungen man als Zuschauer schnell deuten kann, wenn man weiß, wie die Lyrics des Songs beginnen: „He don't hang around with the gang no more / He don't do the wild things that he did before / He used to act bad / Used to, but he quit it.“

    Bereits in Filmen wie „Mud“ und „Shotgun Stories“ bewies sich Jeff Nichols als klassizistischer Ethnograf eines allmählich verschwindenden Amerikas. Sein genauer, so informierter wie romantisierender Blick auf kulturelle Zeichen und Codes verleiht „The Bikeriders“ eine unaufdringliche Authentizität, die der Film nie für unnötige dramaturgische Zuspitzungen preisgibt. Denn wenn auch der gut eine Dekade umspannende Aufstieg und Fall einer kleinkriminellen Bikergang bisweilen an semibiografische, protoamerikanische Mafiaerzählungen wie „Goodfellas“ gemahnen mag, verzichtet Nichols weitestgehend auf eine energetischere Art der Inszenierung, wie man sie aus Martin Scorseses Gangsterelegien kennen mag. Stattdessen bleibt er eher einem spröden, fast schon dokumentarischem Tonfall verbunden.

    Universal Pictures Germany
    Benny hat nicht vor, die Nachfolge von Johnny (Tom Hardy) als Biker-Boss anzutreten.

    Eine mythische Symbolkraft besitzen solche Biker-Stoffe seit jeher auch für die amerikanische Filmindustrie: Nach einer Welle von so kostengünstigen wie erstaunlich lukrativen Motorradgangfilmen in den späten 60er-Jahren markierte 1969 der Erfolg von Dennis Hoppers „Easy Rider“ den Beginn von New Hollywood – einer neuen Filmepoche, die einstmals frischen Wind in das behäbig gewordene Studiosystem Hollywoods brachte und das Kino wieder für ein jüngeres, pop- und subkulturell geprägtes Publikum attraktiv machte.

    Diese Altersgruppe ist es nun auch heute, die, zunehmend angeödet durch langlebig verlängerte Franchises und endlos aufgekochte Blockbuster-Reboots, aufs Neue mit frischeren und juvenileren Stoffen zurückgelockt werden muss. Mit „The Bikeriders“ gelingt es Jeff Nichols dabei, einen retrospektiven, durchaus nostalgisch verbrämten Blick mit einer zeitgemäßen Perspektive zu vereinen: Den verführerisch auf ihren Bikes knatternden Delinquenten gibt er durch sein fantastisches Schauspielensemble Körper und Gesichter, die durch die Geschichte hindurch auch implizit davon erzählen, was es im Hier und Jetzt bedeutet, jung zu sein.

    Fazit: In „The Bikeriders“ erzählt Jeff Nichols die Geschichte einer fiktiven Motorradgang in den 1960er-Jahren als klassische Story von Aufstieg und Fall, verbindet durch seine ausgezeichnete Schauspieler*innen aber die nostalgisch angehauchte Story mit einer unmittelbaren körperlichen Gegenwärtigkeit und Präsenz, wie sie im heutigen Kino selten geworden ist.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top