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    Blue Jean
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Blue Jean

    Selbstfindung im Schatten der "Homo-Panik"

    Von Thorsten Hanisch

    An Filmen, in denen Protagonist*innen mit ihrer Identität ringen, zu sich selbst finden müssen, mangelt’s ja nun wahrlich nicht, weswegen „Blue Jean“ auf inhaltlicher Ebene auch nicht unbedingt für allzu große Überraschungen sorgt. Dennoch sitzt man am Ende, wenn sich die Sportlehrerin Jean (Rosy McEwen) nach langem Ringen dazu bekennt, Frauen zu lieben, und danach unfassbar erleichtert ist, fast ebenso erlöst vor der Leinwand. Der erste Kinofilm der britischen Regisseurin Georgia Oakley fängt in vielen Szenen derart intensiv die Engstirnigkeit und Spießbürgerlichkeit im grauen Thatcher-England der 1980er-Jahre ein, dass es für die Beklemmungen der jungen Frau gar nicht sonderlich vieler Worte bedarf, um zu begreifen, was es wirklich heißt, sich selbst zu verleugnen. Ein wahrlich furioses Debüt.

    Rosy McEwen ist in „Blue Jean“ eine absolute Offenbarung!

    Wir schreiben das Jahr 1988: Die konservative Parlamentsmehrheit unter Margaret Thatcher hat die Section 28 erlassen, eine Gesetzeserweiterung des Local Government Act von 1986: Gemeinden, Schulen und Kommunalbehörden ist die „Förderung von Homosexualität“ von nun an verboten. Für Jean, die sich ohnehin schon bemüht, nach außen hin möglichst „normal“ zu wirken, bleibt damit erstmal mehr oder weniger alles beim Alten. Ihr Doppelleben, in dem sie nachts mit ihrer sehr viel extrovertierteren, rebellischen Freundin Viv (Kerrie Hayes) durch die Schwulenszene von Newcastle streift, kommt allerdings ins Wanken, als ihr eines Tages in ihrer Lieblings-Lesbenbar ihre Schülerin Lois (Lucy Halliday) über den Weg läuft.

    Für die Sportlehrerin könnte eine Enttarnung besonders heikel werden, denn es werden vor allem die Kinder vorgeschoben, um einer erzkonservativen Geisteshaltung Raum zu verschaffen: Schwule und Lesben gelten als Pädophile, die Kinder für ihren „abnormen“ Lebensstil rekrutieren. Eine Lehrerin steht da auf der Abschussliste natürlich besonders weit oben. Besonders verzwickt wird die Lage, als Lois von Klassenschnepfe Siobhan (Lydia Page), die Lois‘ lesbische Neigungen erkennt, gehänselt wird…

    Leider hochaktuell!

    „Blue Jean“ spielt zwar in den 1980er-Jahren, ist aber natürlich gruselig aktuell, denn auch in Europa ist die erzkonservative Sorge, dass eine zu positive Darstellung von alternativen Lebensstilen dem Nachwuchs den Weg zur Hölle schmackhaft macht, wieder auf dem Vormarsch. Trotzdem ist Oakleys Film kein dezidiert politisches Werk, es wird höchstens die Einwirkung des Politischen ins Private spürbar gemacht. So guckt in einer Szene im Lehrerzimmer das Kollegium gemeinsam eine Nachrichtensendung, in der ein alter, verknöcherte Politiker sich nicht nur um den Fortbestand der klassischen heterosexuellen Familie, sondern um die mit ihr verbundenen Grundlage der zivilisierten Gesellschaft sorgt.

    Die entfachte „Homo-Panik“ wirkt sich dann unter anderem darin aus, dass Jeans Vorgesetzte bei einer ihrer Sportstunden unangekündigt dazu stößt, als Kontrolle, da kurz nach der TV-Sendung ein lesbisches Pornoheft auf den Tisch der Lehrerin abgelegt wurde. Die Chefin hatte den Fund zwar erst locker genommen, zumal Jean ihr versichert, dass sie wohl schon wüsste, wer dafür verantwortlich sein könnte. Aber nach dem Getuschel der anderen Kolleg*innen guckt sie dann doch lieber mal nach, ob alles mit rechten Dingen im Unterricht der jungen Frau zugeht. Immerhin ist die Lehrerin ja schon irgendwie komisch - geschieden und über ihr Privatleben ist auch nicht viel bekannt.

    Ihrer Schülerin Lois (Lucy Halliday) würde Jean gerne einen Rat geben. Aber wie soll sie das tun, wenn sie nicht einmal offen zu ihrer eigenen Sexualität steht bzw. stehen kann?

    Der Film kreist völlig um Jean und das Hadern mit sich und ihrer teils von Laiendarsteller*innen gespielten Umwelt, was von der grandiosen Kameraarbeit von Victor Seguin exzellent unterstützt wird. Die erkundet stets neugierig das ungemein zerbrechlich wirkende, ausdrucksstarke Gesicht von Rosy McEwen – und wartet mit faszinierenden, in weichen, leicht gedämpften Farben getunkten, rauen 16-mm-Bildern auf. Das ist nicht nur überragende Darstellungskunst, sondern ein ästhetischer Genuss jenseits der üblichen Klischees, der nicht einfach nur die immer noch anhaltende 1980er-Jahre-Retromanie bedient.

    „Blue Jean“ malt kein Bild von den 1980ern, wie man sie sich heute von Neonlicht durchflutet vorstellt, sondern zeichnet sie auf naturalistische Weise so, wie sie wahrscheinlich am ehesten tatsächlich waren. Auch die Hits, die man mit dieser Ära gemeinhin verbindet, fehlen – stattdessen findet sich eher weniger bekannte Musik (u.a. von Pink Rhythm und The Larks), was dem Authentizitätsanspruch zusätzlich zugutekommt, denn die Dekade hatte musikalisch mehr zu bieten als die Hits, die bis heute überdauert haben.

    Fazit: Ja, „Blue Jean“ ist ein weiteres Selbstfindungsdrama, das in etwa so verläuft und endet, wie man es erwartet. Allerdings kann man das dem Film kaum übelnehmen, denn das, was erzählt wird, ist zwar in den 1980er-Jahren angesiedelt, aber leider gruselig aktuell. Die Umsetzung ist zudem schlicht atemberaubend: Das Regie-Debüt von Georgia Oakley verzichtet trotz 80er-Jahre-Setting auf Klischees und macht mit faszinierenden Bildern und einer immens starken Hauptdarstellerin, den inneren Kampf der Protagonistin fühlbar. Die exzellenten Nebendarsteller*innen runden das positive Bild ab.

     

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