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    W
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    W

    Europa ist die Hölle

    Von Teresa Vena

    Nach einer ziemlich erfolgreichen Karriere als Sängerin hat sich die Finnin Anna Eriksson dem Medium Film zugewandt. Die Frau mit der Seele einer Punkerin und Weltbürgerin geht dabei keine Kompromisse ein. Das wird in ihrer zweiten abendfüllenden Arbeit „W“ (die erste war „M“) unmissverständlich klar. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sie – von der Produktion und der Kameraführung abgesehen – am Film fast alles selbst verantwortet: Drehbuch, Schnitt, Ton, Musik, Setdesign, Kostüme, Maske…

    Geschaffen hat Eriksson mit diesem als Gesamtkunstwerk konzipierten Film einen Schauplatz, der der Vorstellung, die sich die meisten von der Hölle machen, wohl schon ziemlich nahekommt. Hier leidet man nicht an der Hitze, sondern vielmehr an großer Kälte. Zudem müffelt es nach Tod und Urin. Ob die Figuren darin echt sind, seelenlose Hüllen oder eben Phantome, wie einige von ihnen behaupten, spielt keine Rolle. Sie dienen ohnehin nur als Kulisse für das letzte verzweifelte Aufbäumen und die absurd-geschmacklose Selbstinszenierung einer längst entthronten Königin.

    Auffällig ist in „W“ die Anlehnung an eine Sado-Maso-Welt mit ihrer Leder-Ketten-Bekleidung und der nahen Verbindung zwischen Lust und Schmerz.

    Es wütet ein Schneesturm in der einsamen Landschaft. In dieser befindet sich ein pyramidenförmiges Gebäude, ruinös und dreckig. In einem der hohen Räume, die an den Innenraum einer Kathedrale erinnern, liegt Europa (Anna Eriksson) auf einer ranzigen Liege. Ihr Körper ist eingefasst in verschiedene Gurte aus Leder und Metallösen. Sie leidet ganz offensichtlich. Wütend und verzweifelt zugleich ruft sie immer wieder nach der roten Flüssigkeit, die ihr helfen soll. Stattdessen bekommt sie eine Sauerstoffmaske. Sie hat sich zudem einen Diener (Paco Lee) geschaffen, der ihr treu bleibt, aber auch keinen Hehl daraus macht, wie sehr sie ihn abstößt.

    In einem anderen Teil des Gebäudes, das offenbar einst eine Klinik war, wandern Krankenschwestern jeden Alters herum, einmal wischen sie den Boden auf, einmal treffen sie sich im Speiseraum, um aus kleinen Zinntassen eine weiße, milchähnliche Substanz zu schlürfen – bis eine nach der anderen, buchstäblich, einen Kurzschluss erleidet. Zudem geistern noch ein mittelalter Mann (Jussi Parviainen) mit weißen Haaren sowie ein Kind (Jooseppi Pyykkö) in der Pyramide herum…

    Es herrscht Krieg in Europa

    Das Telefon klingelt, ein Mann mit asiatischen Zügen hebt ab, ein anderer Mann meldet sich: Er möchte mit Frau Europa sprechen. Der erste Mann winkt ab, Europa kann nicht, es geht ihr zu schlecht. Dann summt er trocken die Marseillaise und beobachtet, wie Europa, mit schmerzverzerrtem Gesicht und ausgemergeltem Körper, auf dem Rücken die Wand emporklettert. Als wäre sie besessen von einem übermächtigen Dämonen, der sie allmählich von innen aussaugt. Der Mann am Telefon wird später nochmals anrufen und bekanntgeben, dass der ihm als Kapitän zugeteilte Auftrag ausgeführt worden sei: „Es ist vollbracht, es herrscht ein stiller Krieg“.

    Es ist eine politische Parabel voller offener Symbolik, die Eriksson in „W“, was vielleicht für „War“ steht, präsentiert. Europa ist die Personifikation des gleichnamigen Erdteils. Eriksson beschreibt ein Europa im Zerfall, kurz vor dem endgültigen Kollaps. Die Figur Europa ist ein lebende Leiche, sie ist jähzornig und selbstgerecht. Sie hat längst den Verstand verloren und schwafelt wirres Zeug. „Bleibt von ihr mehr als nur eine Idee übrig?“, fragt ihr Diener auf Chinesisch. Der Versuch, an eine einst selbstdeklarierte Großartigkeit, Rechtschaffenheit oder Freiheit anzuknüpfen, sei purer Selbstbetrug. Eriksson geht hart mit Europa ins Gericht. Sie sei nichts anderes als eine Rassistin und Lügnerin, die ihre Kinder für eine schnelle Nummer verkauft habe. Es ist vielleicht ein wenig gewagt, diese Kritik ausgerechnet durch einen chinesischen Akteur ausdrücken zu lassen …

    … doch das passt auch in die allgemeine Argumentation der Regisseurin, wenn sie den Diener als eine von Europa erschaffene Kreatur beschreibt und ihn dann zugeben lässt, dass er Europa, sobald sie in ihren Drogenrausch verfällt, systematisch vergewaltigt. Damit zielt sie vermutlich auf das mehr als zwiespältige Verhältnis zwischen Europa und China. Irgendwann wird auch klar, wonach es Europa eigentlich ständig gelüstet. Die rote Flüssigkeit, nach der sie verlangt, ist Blut. Und am Ende steht sie in ihrem eigenen Urin und trinkt einen Kelch voll Blut, draußen hört man Kriegsgeräusche. Die Klänge der Marseillaise, die man dazwischen vernimmt, wirken wie der pure Hohn.

    Die in grellem Krankenhauslicht ausgeleuchteten Gesichter mit ihren markanten Ecken und Kanten gehen wirklich in Mark und Bein!

    Ihre Bildfülle speist Eriksson aus verschiedenen Quellen, trotzdem überzeugt sie als Ganzes. Aus der griechischen Mythologie abgeleitet ist das Motiv, dass Europas Diener erschaffen wurde wie Pygmalions Frau. Europas Liege ist unter einer Erdkugel platziert, wie Europa sich oft selbst als Mitte der Welt sieht. Eine ungewöhnliche Idee ist die Figur des älteren Mannes, dem die Krankenschwestern Milch aus der Brust pumpen, dies weckt Assoziationen an die Milchbar aus Stanley Kubricks Kult-Skandalwerk „Uhrwerk Orange“. Und die verschiedenen Szenen mit Europa, in denen sie an der Wand hinaufkrabbelt, können sich ohne weiteres mit ähnlichen Effekten aus den vielen Exorzismus-Filmen messen. Auffällig ist zudem die Anlehnung an eine Sado-Maso-Welt mit ihrer Leder-Ketten-Bekleidung und der nahen Verbindung zwischen Lust und Schmerz.

    Nicht zuletzt erinnern die derbe Ästhetik sowie die Körperlichkeit im Film an frühe Werke von David Cronenberg („Crimes Of The Future“). Es ist bemerkenswert, was „W“ aus eher begrenzten Mitteln herausholt. Inhaltlich entziehen sich ein paar Elemente der genauen Interpretation, doch unterstützen sie so nur umso mehr die surreal apokalyptische Stimmung, die der Film zu erzeugen vermag. Diese bissige Satire kann für eher zart besaitete Menschen zu einer gewissen Herausforderung werden, wobei weniger die Nackt-, Sex- oder einzelnen Folterszenen besonderen Eindruck hinterlassen, als vielmehr die in grellem Krankenhauslicht ausgeleuchteten Gesichter mit ihren markanten Ecken und Kanten durch Mark und Bein gehen werden.

    Fazit: Die finnische Regisseurin Anna Eriksson präsentiert eine äußerst stilsichere politische Parabel, die auf inhaltlicher wie auch visueller Ebene eine radikal eigenständige Position einnimmt.

    Wir haben „W“ beim Filmfestival in Locarno gesehen, wo er außer Konkurrenz gezeigt wurde.

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