(Fast) Zwei Jahre nur für die ganz schönen Sachen
Von Christoph Petersen„Eine Million Minuten“ hat offensichtlich einen Nerv getroffen: Auf der Startseite von FILMSTARTS gibt es eine Liste mit kommenden Filmen, die von unseren Leser*innen besonders oft aufgerufen werden – und dort hält sich das Regiedebüt von Karoline Herfurths Stamm-Produzenten Christopher Doll nun schon seit Wochen ununterbrochen auf Platz 1! Das kommt so gut wie nie vor – nicht mal bei großen Hollywood-Blockbustern. Aber schon die 2018 erschienene Vorlage „Eine Million Minuten: Wie ich meiner Tochter einen Wunsch erfüllte und wir das Glück fanden“ von Wolf Küper* traf den Zeitgeist wie kaum ein anderes Sachbuch der vergangenen Jahre.
1.000.000 Minuten nur für die ganz schönen Sachen wünscht sich die entwicklungsverzögerte Tochter eines Abends beim Vorlesen – und irgendwie bringt dieser naive Wunsch den als Umweltexperten bei der UN tätigen Vater tatsächlich ins Grübeln. Es folgt eine zweijährige Weltreise nach Thailand und Island – mit ganz viel Zeit für die Familie, aber auch zum Reflektieren der eigenen Prioritäten. Nun kann das sicherlich nicht jeder so machen – und trotzdem wird „Eine Million Minuten“ einen Großteil der Zuschauenden zum Nachdenken bringen. Nicht belehrend oder kitschig, sondern einfach ehrlich und empathisch – so wird der Film selbst die Zyniker*innen im Publikum zu fassen kriegen.
Als der Umweltexperte Wolf Küper (Tom Schilling) spätabends von einer Konferenz in New York nach Hause kommt, berichtet er stolz von seinen Verhandlungserfolgen – und dass die nächsten zwei Jahre, in denen die erreichten Vereinbarungen nun auch umgesetzt werden müssen, noch einmal besonders herausfordernd werden. Seine Frau Vera (Karoline Herfurth) ist davon allerdings gar nicht begeistert – ganz im Gegenteil: Sie droht als berufstätige Mutter an den familiären Aufgaben zu zerbrechen – zumal es nach einem wahren Ärztemarathon noch immer keine klare Diagnose gibt, warum sich Tochter Nina (Pola Friedrichs) langsamer als andere Kinder in ihrem Alter entwickelt.
Beide wollen es unbedingt hinkriegen, aber es findet sich keine gute Lösung – bis sich Nina eines Abends beim Vorlesen plötzlich die titelgebenden „eine Million Minuten“ wünscht. Natürlich tut Wolf das zunächst als naiven Kinderkram ab – nur um dann schließlich doch noch den Taschenrechner hervorzukramen: 1.000.000 Minuten sind 694 Tage – und damit etwas weniger als zwei Jahre. Das muss doch gehen – und so bestimmt Nina mit dem Finger auf dem Globus, wo es in dieser Zeit hingehen soll, während Wolf seine wenig begeisterte Chefin (Anneke Kim Sarnau) davon überzeugt, ihn in nächster Zeit aus Thailand und Island per Videochat arbeiten zu lassen…
Es gibt zwei Stellen, an denen das Projekt „Eine Million Minuten“ ganz übel hätte scheitern können: Zunächst schon beim Schreiben des Buches, wenn sich der reale Wolf Küper darin als Superdad inszeniert hätte, der das mit seiner Tochter aber mal ganz easy und entspannt auf die Reihe kriegt. Stattdessen ist schon der eröffnende Spätabendstreit im Film fast ein wenig ungemütlich – gerade weil man beiden glaubt, dass sie nur das Beste wollen, es aber schlicht keine einfachen Lösungen gibt. Und selbst am sonnigen Strand in Thailand wird Wolf sein eintrainiertes Effizienzdenken einfach nicht los: Auch wenn er für seine Tochter wundervolle Ideen wie ein Zeitmaschine-Fahrrad umsetzt, spürt man zugleich seine ständige Frustration, wenn die Pläne mal nicht sofort Früchte tragen.
Die zweite Chance zum Scheitern lag dann bei Regisseur Christoper Doll, wenn er die kleinen Momente der Vorlage mit aller Gewalt auf Leinwandformat aufgeblasen hätte – aber was das angeht, hat er sich bei der gemeinsamen Arbeit an „Wunderschön“ und „Einfach mal was Schönes“ offensichtlich eine Menge von Regisseurin Karoline Herfurth abgeschaut. Besonders deutlich wird das in einer Szene, die im Film zwar nur eine beiläufige Rolle spielt, aber trotzdem zeigt, dass die Beteiligten verstanden haben, worum es in der Erzählung geht: Wolf telefoniert am Strand kurz mit dem Arbeitshandy und dreht sich dabei mit dem Rücken zu Nina, die hinter ihm ins Meer spaziert. Natürlich erwartet man da, dass das Mädchen nun (fast) ertrinkt – so als finaler Wachmacher für den Vater …
… aber Pustekuchen: Nina entdeckt im flachen Wasser „lediglich“ einen Schwarm Fische – und ihr Vater hat diesen Moment für immer verpasst. Das ist alles – und natürlich ist das viel kraftvoller als irgendeine mit den typischen Klischees herbeikonstruierte Beinahe-Katastrophe. Deshalb ist es auch so wichtig, dass „Eine Million Minuten“ nicht nur mit bekannten Namen, sondern auch zwei herausragenden Schauspieler*innen in den Hauptrollen aufwartet: Karoline Herfurth („SMS für dich“) und Tom Schilling („Der Pfau“) punkten nicht nur beim anfänglichen Zank mit einem erstaunlichen Maß an Authentizität (und vor allem im Fall von Schillings Wolf auch spannenden Ambivalenzen).
Fazit: Ja, die Geschichte von Wolf Küper und seiner Familie hat einen nicht zu verleugnenden „Berlin-Mitte-Fokus“ – schließlich kann nicht jeder von heute auf morgen remote arbeiten und nebenher eine Weltreise antreten. Aber das ändert nichts daran, dass man nach dem mit Tom Schilling und Karoline Herfurth extrem stark besetzten „Eine Million Minuten“ über seine Prioritäten nachdenkt – und sobald das Feuerwehrauto vorfährt, bleibt auch kein Auge mehr trocken, denn spätestens da geht der angenehm kitschfreie Film so richtig zu Herzen!
*Bei den Links zum Angebot von Amazon handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links erhalten wir eine Provision.