Ein haariges Historien-Drama, das Mut macht und zu Herzen geht
Von Gaby SikorskiDie Heilige Kümmernis ist eine merkwürdige Erscheinung inmitten der mit Seltsamkeiten ohnehin recht gut versorgten katholischen Mythologie: Auf den ersten Blick könnte man die bärtige Figur am Kreuz für einen Jesus in Frauenkleidern halten – Christus als Transvestit? Vielleicht die Conchita Wurst des Mittelalters? Immerhin weist der spanische Name der in ganz Europa verehrten, aber von der katholischen Kirche niemals anerkannten Heiligen in die richtige Richtung: Santa Librada – die Befreite. Der Sage nach handelte es sich um eine portugiesische Prinzessin christlichen Glaubens namens Wilgefortis („starker Wille“), die im 2. Jahrhundert von ihrem Vater, dem König des damaligen Lusitaniens, verheiratet werden sollte. Ihre Gebete wurden erhört: Sie musste nicht heiraten, denn Gott ließ ihr einen Bart wachsen, der die Männer abschreckte.
Für die titelgebende Protagonistin (Nadia Tereszkiewicz) in „Rosalie“ ist die kleine Holzfigur der Wilgefortis ihr größter Trost. Sie soll heiraten, aber im Gegensatz zu der Heiligen bedeutet das für sie die Erfüllung ihres größten Wunsches. Mitsamt ihrer Aussteuer und gemeinsam mit ihrem Vater (Gustave Kervern) verlässt sie ihr Elternhaus. Die schöne, junge Rosalie ist von Zweifeln erfüllt: Wird ihr Mann Abel (Benoît Magimel) sie lieben? Denn Rosalie hat ein Geheimnis, und das wird er in der Hochzeitsnacht entdecken…
Der zweite Kinofilm von Stéphanie Di Giusto („Die Tänzerin“) ist nicht nur ein wunderschönes, außergewöhnliches Drama voll Zartheit, Zärtlichkeit und Melancholie, er beginnt auch direkt mit einer hinreißend geheimnisvollen Exposition ohne irgendwelche Erklärungen. Stimmungsvolle Bilder führen in eine nicht näher benannte Vergangenheit: eine junge Frau, die aus einem Alptraum erwacht, ein Kreidekreuz auf dem Boden ihres Schlafzimmers, ihr Kuss für das Foto eines Soldaten, der liebevolle Vater, der ihr Blumen bringt und sich um sie sorgt. Dass Rosalie ein Problem hat, weil sie eigentlich am ganzen Körper behaart ist und deshalb ständig ihr Gesicht rasiert, erfährt das Publikum erst zusammen mit ihrem frischgebackenen Ehemann Abel, der beim Blick auf ihre behaarte Brust erst verwirrt, dann ängstlich und schließlich wütend reagiert.
Doch bis es so weit ist, führt Di Giusto in sensibel gestalteten Bildern und praktisch ohne Dialoge in ihre Geschichte ein, in der die wichtigsten Personen der Handlung scheinbar beiläufig vorgestellt werden. Da ist Abel, der Ex-Soldat, vermutlich aus dem französisch-preußischen Krieg von 1870/71, der schwer verwundet wurde und nun als Wirt eines schlecht laufenden Gasthauses und als Tierpräparator sein Leben fristet. Benoît Magimel („Geliebte Köchin“) spielt ihn als schweigsamen, ernsthaften Mann mit der Tendenz zum Eigenbrötlerischen. Abel ist hoch verschuldet – Rosalies Mitgift soll ihn vor dem Ruin retten. Dafür ist er das Risiko eingegangen, sie zu heiraten, ohne sie je gesehen zu haben.
Sein Gläubiger ist der reiche Fabrikant und Großgrundbesitzer Barcelin (bedrohlich und geheimnisvoll: Benjamin Biolay), der unangefochtene Herrscher über Land und Leute. Mit seiner Textilfabrik gibt er den Menschen Lohn und Brot, Kindern wie Erwachsenen, und er nutzt ihre Arbeitskraft schamlos aus. Und schließlich Rosalie selbst: eine aufmerksame junge Frau mit wachem Blick, sanftmütig gegenüber Mensch und Tier, verständnisvoll und liebenswürdig. Sie wird mit viel Einfühlungsvermögen und einer Mischung aus handfestem Charme und unterschwelliger Zerbrechlichkeit von Nadia Tereszkiewicz verkörpert, die schon in „Forever Young“ und „Mein fabelhaftes Verbrechen“ ihr herausragendes Talent beweisen konnte. Hier zeigt sie sich als stille, junge Frau, die mit dem Mut der Verzweiflung und viel Willenskraft um ihre Akzeptanz kämpft – ihrer Zeit weit voraus, aber eigentlich ohne jede Chance, sich gegen die herrschenden Konventionen durchzusetzen.
Die Handlung nimmt eine unerwartete Wendung, als sich Rosalie dafür entscheidet, offensiv zu ihrer Behaarung zu stehen, und sich einen schmucken Vollbart wachsen lässt. Zunächst, um eine Wette zu gewinnen, damit Abel seine Schulden weiter reduzieren kann. Aber dann strömen die Gäste nur so in Abels Lokal, um die bärtige Frau zu sehen, die sie stets liebenswert und zuvorkommend bewirtet. Rosalie wird zur Attraktion, sie blüht auf, wird immer mutiger und wagt es sogar, Barcelin zu widersprechen. Doch der Schein trügt, denn während sich Abel und Rosalie sehr langsam und vorsichtig immer näher kommen, brodeln die Gerüchte innerhalb der Dorfgemeinschaft. Und Barcelin sinnt auf Rache.
Vielleicht ist „Rosalie“ eine der schönsten Liebesgeschichten des Kinojahres, auf jeden Fall aber ein sehenswertes Melodram mit einer überwältigenden Bildsprache, in der vieles nebenbei und dadurch umso einfühlsamer vermittelt wird: nicht nur die Situation von Rosalie, die ungewollt und unschuldig zum Opfer des herrschenden Zeitgeistes wird, sondern auch die drückende Atmosphäre der Frühindustrialisierung, die hier nichts vom Aufbruch in eine neue Zeit, sondern stattdessen von brutaler Ausbeutung und Abhängigkeit erzählt. Ebenso beiläufig geht es am Rande um die Folgen der schweren Kriegsverletzung bei dem Ex-Soldaten Abel, der ständig Schmerzen hat und ein klobiges Korsett tragen muss. Rosalie und Abel sind sich ähnlich in ihrer Geduld, ein Schicksal zu erdulden, das sie nicht ändern können, und in ihrem Willen, daraus das Beste zu machen. Doch auch Rosalies Kampfgeist ist irgendwann erschöpft.
Kein Wort ist hier zu viel, es wird vor allem in Gesten, Blicken und Andeutungen erzählt – und die Kamera erforscht die Gesichter der beiden Hauptpersonen mit zarter Beharrlichkeit. Auf diese Weise erhält die Geschichte einen wunderbar melancholisch wehmütigen Unterton, der ein tragisches Ende ahnen lässt, ohne dabei in Schwermut zu verfallen.
Fazit: Das zu Herzen gehende Drama orientiert sich lose an der Biografie der Französin Clémentine Delait, die Ende des 19. Jahrhunderts als „bärtige Frau“ und Caféhaus-Betreiberin bekannt wurde und viele Jahre glücklich mit einem Bäckermeister verheiratet war. Rosalie hingegen wird den großen Kampf um Anerkennung nicht gewinnen können – aber immerhin findet sie die Liebe.