Die Schöne zwischen zwei Biestern
Von Björn Becher„Schöne Menschen haben es leichter“, ist ein geflügeltes Sprichwort, welches Aaron Schimberg schon lange umtreibt. Der Regisseur, der seit seiner Geburt eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte hat, konnte sich als Person mit einer angeborenen Gesichtsdeformität nicht mit typischen Kinofiguren identifizieren – und war deshalb so unzufrieden mit den Filmen, dass er mittlerweile seine eigenen schafft. In der Komödie „Chained For Life“ erzählt er etwa von einer Filmschönheit, die sich beim Dreh eines Horrorfilms in ihren entstellten Kollegen verliebt. Für die männliche Hauptrolle gewann er dabei Adam Pearson („Under The Skin“), der die Erbkrankheit Neurofibromatose hat. Diese sorgt dafür, dass sein Gesicht von zahlreichen kleinen Tumoren übersät ist.
Auch in seinem neuen Film greift Schimberg das Thema auf – mit Pearson dieses Mal in einer szenenstehlenden Nebenrolle und Marvel-Star Sebastian Stan im Zentrum. In „A Different Man“ macht er klar, dass die ohnehin sehr subjektive „Schönheit“ eben doch nicht alles ist. Seine Geschichte von einer ganz und gar nicht zum Glück führenden „Wunderheilung“ erzählt er mit viel grotesker Komik und sogar kurzen blutigen Ausflügen ins Body-Horror-Genre à la David Cronenberg (wobei hier eher „Face-Horror“ passt). Dass er im Finale etwas ausführlich auf seiner Botschaft herumreitet, schmälert die Freude am mit groteskem Humor, starken Schauspielleistungen, tollen Bildern, einem cleveren Rollentausch und einer grandiosen Masken-Arbeit aufwartenden Werk allerdings kaum.
Der gerade so über die Runden kommende Schauspieler Edward (Sebastian Stan) leidet unter seinem durch eine Krankheit verformten Gesicht. Schüchtern und wortkarg zieht er sich zurück in seine heruntergekommene New Yorker Wohnung, in der ein immer größer werdendes Loch in der Decke klafft. Denn draußen kann er die angeekelten Blicke seiner Mitmenschen förmlich spüren. Nur mit seiner neuen Nachbarin Ingrid (Renate Reinsve) ist es anders. Sie scheint an ihm als Mensch interessiert zu sein. Doch auch in der Gegenwart der an ihrem ersten Theaterstück schreibenden Dramatikerin kann er seine Schüchternheit nicht ablegen. Als Edward an einer Medikamentenstudie teilnimmt, wirkt diese bei ihm wahre Wunder. Innerhalb von einer Woche fallen ganze Fleischfetzen aus seinem Gesicht. Darunter kommt ein völlig neues Äußeres zum Vorschein.
Weil ihn keiner erkennt, täuscht Edward den eigenen Selbstmord vor und beginnt ein komplett neues Leben als beliebter, mit seinem makellosen Antlitz werbender Immobilienmakler Guy. Als er einige Zeit später Ingrid auf der Straße entdeckt, verfolgt er sie. So findet er heraus, dass sie ein Theaterstück über Edward inszeniert und gerade die Hauptrolle castet. Weil er die schüchtern-verstockte Gestik natürlich so überzeugend wie kein anderer verkörpern kann, bekommt er den Part – und landet zudem mit der Regisseurin im Bett. Er scheint endgültig obenauf, doch dann tritt Oswald (Adam Pearson) auf den Plan. Der tatsächlich noch immer an Neurofibromatose erkrankte Lebemann ist trotz seines Aussehens ein Bündel an Selbstbewusstsein und läuft Guy in Ingrids Gunst immer mehr den Rang ab...
Dass Edward als Guy eben gerade nicht ein „anderer Mann“ ist, wie es der Filmtitel verspricht, wird in der zweiten Hälfte des Films schnell klar. Durch den neuen Rivalen verfällt er schnell wieder in die alten Muster der Unsicherheit. Nur weil er ein neues Gesicht hat und seine Umwelt ihn nun mit anderen Augen sieht, hat er sich im Innern doch ausgesprochen wenig verändert – auch wenn er selbst das nicht glauben will. Das macht Schimberg im sich etwas ziehenden Finale womöglich sogar ein wenig zu deutlich. Doch zum Glück sind die ersten zwei Drittel von „A Different Man“ umso stärker.
Denn der Regisseur nimmt sich viel Zeit, um Edward zu etablieren – und erzählt dabei nicht etwa das tieftraurige Drama eines Außenseiters, sondern bricht das Geschehen immer wieder mit absurdem Humor. Da streiten nach dem Selbstmord eines Nachbarn der Krankenwagenfahrer und ein Eisverkäufer auf der Straße, weil nicht genug Platz für beide Fahrzeuge ist. Und durch das große Loch in Edwards Decke tropft bald nicht nur eklig-schwarzes Wasser, sondern fallen auch noch andere Dinge. Verbunden ist dies mit aus der Zeit gefallenen 35mm-Bildern eines New Yorks, welches mit seinen verschwommenen Neon-Lichtern auch aus den 70ern oder 80ern stammen könnte (wie auch die Kleidung vieler Figuren). Aber dann wird plötzlich Facebook erwähnt.
Immer wieder bricht Schimberg das Geschehen mit seinen Einfällen. Da wünscht sich Ingrid beim Sex plötzlich, dass Guy seine Edward-Maske aufzieht – nur um kurz vor dem Höhepunkt zu erkennen, dass dies irgendwie doch keine so gute Idee ist. Vor allem in der ersten Hälfte sind die sich auch mal am Rande des Geschehens abspielenden Dinge ein zusätzlicher Reiz – und wenn es nur zwei Leute sind, die auf der engen Treppe nicht richtig aneinander vorbeikommen. Auf andere Weise ein Juwel sind die gemeinsamen Unterhaltungen von Edward und Ingrid, die immer wieder auf grandiose Weise zum Fremdschämen einladen, weil er keine Worte findet und sie so schwer zu greifen ist.
Begeisternd ist dabei jederzeit das Schauspieltrio im Mittelpunkt: Adam Pearson ist als die Welt umarmender Oswald ein wunderbarer Kontrast zum unsicheren Guy. Die schon im gefeierten „Der schlimmste Mensch der Welt“ begeisternde Norwegerin Renate Reinsve verleiht Ingrid in ihrem US-Debüt genau die richtige Aura, um die Figur zu Beginn ein wenig undurchschaubar zu halten. Und der vor allem als Winter Soldier aus dem MCU bekannte Sebastian Stan kann seine Faibles für abgründige Figuren (wie als Kannibale in „Fresh“) und vollen Körpereinsatz (wie als Schock-Rocker mit riesigem Penis in „Pam & Tommy“) hier ganz wunderbar verbinden.
Doch der Clou ist eigentlich das Casting an sich. Mehrfach wird in „A Different Man“ über die Rolle geredet, für die man geboren wurde – und schwebt dabei natürlich immer auch die Frage der Besetzung im Film selbst mit: Denn natürlich ist eigentlich Adam Pearson geboren, um die Rolle des Edward zu spielen. Gerade weil Aaron Schimberg ja angetreten ist, um Kinofiguren mit angeborenen Gesichtsdeformitäten in den Fokus zu rücken, verwundert es auf den ersten Blick, dass er nicht Pearson für die Hauptfigur, sondern den „schönen“ Stan mit Maske besetzt hat.
Der Film beantwortet diese Frage an einer Stelle selbst, wenn das Theaterstück kurzfristig in Anlehnung an „Die Schöne und das Biest“ umgeschrieben wird, um erst Oswald als „entstellten“ Edward und dann Guy als quasi verwandelten „schönen“ Oswald einzubauen. Das wäre vielleicht in der Deutlichkeit gar nicht so nötig gewesen, weil Schimberg allein mit den vorher gelieferten Denkanstößen schon so unglaublich viel sagt.
Dass Schimberg dies so machen kann, ist übrigens auch dem heimlichen Star seines Films zu verdanken: Make-Up-Künstler Mike Marino, der bereits Colin Farrell für „The Batman“ in den Pinguin verwandelte, leistet einmal mehr ganze Arbeit. Zu keinem Zeitpunkt wirkt Stans Maske künstlich – und wenn sich die Verformungen nach und nach in blutigen Lappen von der Haut lösen, ist das ein unglaublich effektiver Ekel-Moment, der den grandiosen Abschluss der ersten Hälfte und das Eröffnungssignal für die neue Richtung der zweiten Hälfte gibt.
Fazit: Aaron Schimbergs „A Different Man“ erweist sich als bitterböse Komödie, die schon zwischen den Zeilen so viel über unsere Fokussierungen auf Äußerlichkeiten sagt, dass die deutlicheren Ausrufezeichen im Finale des Films gar nicht zwingend nötig gewesen wären.
Wir haben „A Different Man“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.