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    Reality
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Reality

    Next Level True Crime: Ein Wort für Wort exakt verfilmtes FBI-Protokoll

    Von Lars-Christian Daniels

    Im Jahr 2017 schrieb die frühere US-Air-Force-Linguistin Reality Winner nicht nur Kriminal-, sondern auch Politikgeschichte: Wenige Monate nach der US-Präsidentschaftswahl ging die Hobby-Gewichtheberin als erste Whistleblowerin in der Donald-Trump-Ära in die Annalen ein. Als Sprachwissenschaftlerin eines Dienstleisters für die National Security Agency (NSA) hatte die Trump-Kritikerin im Rahmen von Übersetzungstätigkeiten Zugriff auf geheime Dokumente und schickte einen unter Verschluss stehenden Bericht über die Beeinflussung der Wahlen durch Russland an das Online-Portal The Intercept.

    Pünktlich zu den nahenden Präsidentschaftswahlen 2024, für die sich Donald Trump trotz aller Skandale und Gesetzesbrüche zur Freude seiner Anhänger unbeirrt als Kandidat ins Spiel bringt, kommt ihre Geschichte nun hierzulande ins Kino – oder besser gesagt: ein kleiner Teil davon. Denn die US-amerikanische Filmemacherin Tina Satter zeichnet in ihrem fast in Echtzeit ablaufenden Debütfilm „Reality“ anhand von Originaldialogen jenen Samstagnachmittag nach, an dem das FBI die tatverdächtige Whistleblowerin in ihrem Wohnhaus mit Fragen löcherte und schließlich die Handschellen klicken ließ. Das Ergebnis: ein spannend aufbereitetes, stark gespieltes und fast dokumentarisch anmutendes Stück US-Geschichte.

    Während Reality Winner im Verhör in die Enge getrieben wird, durchsuchen Beamte ihr gesamtes Hab und Gut. PLAION PICTURES
    Während Reality Winner im Verhör in die Enge getrieben wird, durchsuchen Beamte ihr gesamtes Hab und Gut.

    Samstag, 3. Juni 2017: Als Reality Winner („Euphoria“-Star Sydney Sweeney) vom Einkaufen zurückkehrt, stehen plötzlich zwei Männer vor ihrem Haus in Georgia und zücken ein Audiogerät. Die FBI-Agenten Justin C. Garrick (Josh Hamilton) und R. Wallace Taylor (Marchánt Davis) haben einen Durchsuchungsbefehl und möchten eine Befragung durchführen. Reality stimmt zu. Doch die zunächst oberflächlich anmutende Unterhaltung entwickelt sich zu einem Verhör – und die junge Frau sieht sich plötzlich mit schweren Vorwürfen konfrontiert, während ein FBI-Team zeitgleich ihr Hab und Gut durchwühlt...

    Wie man „Reality“ rezipiert, hängt stark davon ab, mit welchem Vorwissen man den gerade einmal 83 Minuten langen Film schaut. Wer die einleitenden Absätze dieser Kritik gelesen, sich anderweitig informiert oder den Medienwirbel um Reality Winner verfolgt hat, genießt einen erheblichen Wissensvorsprung gegenüber denen, die unvorbereitet ins Kino gehen. Wer hingegen nicht um die Straftat weiß, für die Winner hinter Gitter wanderte, wird die sympathische Frau lange für unschuldig halten – was nicht zuletzt an den Inszenierungsstrategien liegt, auf die Tina Satter bei der Adaption ihres eigenen Theaterstücks „Is This A Room“ setzt.

    Der erste Gedanke gilt dem Wohl der Haustiere

    Die Filmemacherin, die gemeinsam mit James Paul Dallas auch das Drehbuch schrieb, läuft zwar nie Gefahr, Reality Winner als weibliches Edward-Snowden-Pendant zu heroisieren. Doch die Sympathiepunkte verteilt sie recht klar: Da ist zum einen die unschuldig wirkende, sichtbar eingeschüchterte Reality, die nach dem Anrücken der FBI-Armada auf ihrem Grundstück zuerst an das Wohl ihrer Haustiere denkt (und erst später an ihr eigenes). Und da sind die Ermittler Garrick und Taylor, die im Stehen bei vermeintlich unverbindlichem Small Talk über Hunde oder Augusta das Vertrauen der Verdächtigen gewinnen wollen und sie auffallend oft nach ihrem Wohlbefinden fragen. Wir durchschauen die Masche schnell, und auch Reality schwant Böses.

    Die Kamera fängt die FBI-Agenten, die lange mit konkreten Vorwürfen hinterm Berg halten und deren Maske der Freundlichkeit auch in den Schlussminuten nicht fällt, in subtilem Stil als Bedrohung ein. Während Winner in der zweiten Filmhälfte buchstäblich mit dem Rücken zur Wand steht, sehen wir die Ermittler oft aus leichter Unterperspektive, die Realitys Augenhöhe entspricht – etwa, wenn der harmlos anmutende Garrick in seinem karierten Kurzarmhemd an ihre Autoscheibe klopft oder sie in einem Abstellraum mit bohrenden Fragen ins Schwitzen bringt. Wer kein glühender Trump-Anhänger ist, wird sich schnell auf die Seite von Reality schlagen, die im Prolog auf Fox News mitanhören muss, dass der umstrittene US-Präsident soeben FBI-Chef James Comey gefeuert hat.

    Nach ihrer grandiosen Leistung in „Reality“ werden alle großen Studios Sydney Sweeney ganz weit oben auf ihrer Wunschliste für kommende Projekte haben. PLAION PICTURES
    Nach ihrer grandiosen Leistung in „Reality“ werden alle großen Studios Sydney Sweeney ganz weit oben auf ihrer Wunschliste für kommende Projekte haben.

    Auf der Tonspur hält sich Satter dafür penibel an die Transkripte des realen FBI-Verhörs, die auch regelmäßig eingeblendet werden. Banalitäten wie ein Husten lässt sie dabei ebenso wenig aus wie geschwärzte Stellen: Wurde im Protokoll ein Satz unkenntlich gemacht, setzt der Dialog aus und die sprechende Person wird im Film für einen kurzen Moment unsichtbar. Stilistisch ist das gewöhnungsbedürftig, unterstreicht aber den dokumentarischen Charakter. Diesem strengen Duktus folgt die Regisseurin allerdings nicht in letzter Konsequenz: In kurzen Rückblenden streut Satter nicht nur reale Instagram-Posts und Ausschnitte aus Talkshows, sondern auch fiktive Momente ein, deren Details nicht oder nur zum Teil aus den FBI-Protokollen hervorgehen.

    Trotz der kleinen Schönheitsfehler ist „Reality“ eine zurückhaltend-stimmungsvoll vertonte Kreuzung aus fiebrigem Dialogdrama und entlarvendem True-Crime-Kammerspiel. Das ist nicht zuletzt der starken Hauptdarstellerin zu verdanken: Sydney Sweeney („Wo die Lüge hinfällt“) dürfte sich mit ihrer facettenreichen Performance auf die Notizzettel zahlreicher Filmstudios spielen. Als zunehmend in die Enge getriebene Verdächtige ist sie eindeutig der Star des auf engem Raum stattfindenden Drei-Personen-Stücks, das nur in wenigen Momenten um den hünenhaften FBI-Agenten Joe (Benny Elledge) erweitert wird.

    Fazit: Spannend arrangiert, überzeugend besetzt und nah an den Fakten: Tina Satter liefert mit „Reality“ eine sehr interessante Momentaufnahme der jüngeren US-Geschichte, die nicht nur im Wahljahr 2024 einen Blick wert ist.

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