Die Verbrechen des Papstes
Von Michael MeynsImmer wieder hat sich der italienische Regisseur Marco Belocchio im Laufe seiner inzwischen mehr als 60 Jahre umspannenden Karriere mit Facetten der Geschichte seines Landes auseinandergesetzt. Oft ging es dabei um die Mafia („Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“), aber die Kirche war nie weit weg. Jene Institution also, die in Italien so sehr präsent ist wie in kaum einem anderen westlichen Land, steht nun im Mittelpunkt von „Kidnapped“, einer Art historischem True-Crime-Drama. Minutiös, mit großem formalen Aufwand, aber inhaltlichen Schwächen, zeichnet Belocchio die Entführung eines jüdischen Kindes durch die katholische Kirche nach, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts zutrug. Eine an sich spektakuläre, schon damals ein gewaltiges Medienecho auslösende Geschichte, die Belocchio jedoch allzu trocken und distanziert inszeniert, als das sie über die bloßen Fakten hinaus berühren würde.
1858. In Rom regiert Papst Pius IX. (Paolo Pierobon) über den Kirchenstaat, einer der vielen Kleinstaaten auf den Gebiet des modernen Italiens. Im Einflussgebiet der Kirche liegt auch Bologna, wo die jüdische Bevölkerung in relativer Freiheit leben kann. Doch eines Nachts stehen Offizielle im Haus der gut situierten jüdischen Familie Mortara und verlangen die Herausgabe des sechsjährigen Sohnes Edgardo (Enea Sala). Dieser wurde von einer missgünstigen Hausangestellten der Mortaras heimlich getauft und ist in den Augen der Kirche somit ein Christ, der unter der Obhut des Kirchenoberhaupts steht. So sehr sich Edgardos Eltern Momolo (Fausto Russo Alesi) und Marianna (Barbara Ronchi) auch wehren: Gegen die Kirche kommen sie nicht an. Jahre später steht der Revolutionär Garibaldi vor den Toren Roms, endlich könnte Edgardo befreit werden und zu seiner Familie zurückkehren. Doch der inzwischen 18-Jährige (jetzt von Leonardo Maltese gespielt) ist seinem Papst inzwischen treu ergeben…
Edgardo (Enea Sala) wird solange indoktriniert, bis er seinem Entführer Papst Pius IX. (Paolo Pierobon) schließlich näher ist als seinen eigenen Eltern.
Was für eine Geschichte! Was Marco Bellocchio in „Kidnapped“ erzählt, mutet so bizarr an, so aus der Zeit gefallen, dass sofort klar ist, warum diese Geschichte wie fürs Kino gemacht ist. Das hatte sich vor Jahren auch Steven Spielberg gedacht, der ebenfalls einige Zeit an einem Film über Edgardo Mortara arbeitete, das Projekt aber fallen ließ, weil er keinen passenden Kinderdarsteller fand. Wie Spielberg diese Geschichte erzählt, welche Schwerpunkte er wohl gesetzt hätte? Angesichts vieler seiner Filme, in denen Kinder in Extremsituation im Mittelpunkt stehen, kann man sich leicht vorstellen, warum ihn gerade diese Story interessiert hat. Ebenso liegt nahe, dass er sich mehr auf den emotionalen Kern der Geschichte konzentriert hätte, als es nun Marco Bellocchio in seiner Version tut.
Immer wieder hat sich der inzwischen 83-jährige Bellochio als Chronist der italienischen Geschichte hervorgetan, zum Beispiel mit dem hervorragenden Mafia-Film „Buongiorno, notte – Der Fall Aldo Moro“ oder dem Mussolini-Drama „Vincere“ (2009). Auch die Ereignisse von „Kidnapped“ laufen parallel zu einer ereignisreichen Phase der italienischen Geschichte: Immer mehr schwelt die Auflehnung gegen die Macht der Kirche und des Kirchenstaates, die schließlich 1870 zum Sturm auf Rom führt, mit dem der Revolutionär Giuseppe Garibaldi die italienische Kleinstaaterei beendet und die Grundlage für den modernen italienischen Staat legt. Was das nun aber mit der Geschichte von Edgardo Mortara zu tun hat, ist eine Frage, die Bellocchios Film nie so recht beantworten kann.
Als Katalysator der Proteste gegen die Kirche will Belocchio die Entführung des Kindes verstanden wissen, doch über historische Einzelheiten geht er im Sauseschritt hinweg. Ob die Ursache der Proteste gegen die Kirche in Bologna tatsächlich in der Wut über die Entführung Edgardos liegt, bleibt eine Vermutung. Ebenso wie die Frage, warum der kleine Edgardo sich mehr und mehr von seiner Familie, von seinem jüdischen Glauben entfernte. Man mag hier an eine Variante des Stockholm-Syndroms denken, jene tatsächlich oft bestätigte These, dass Entführungsopfer oft Sympathien für ihre Kidnapper entwickeln. Edgardo jedenfalls wurde zum eingefleischten Katholiken, der dem Papst treu ergeben und bis zu seinem Tod 1940 als Priester tätig war. Gerade zu Beginn deuten einige Szenen zwischen Egardo, seinem Vater und besonders seiner Mutter das emotionale Potential der Geschichte an, zeigen den Schmerz, den die Entführung des Kindes bei allen Beteiligten auslöste. Angesichts zahlreicher Zeitsprünge und dem großen historischen Bogen, den Bellocchio schlagen möchte, werden solche Momente jedoch zunehmend rar.
Statt wie in seinen besten Filmen mit ruhigen, intimen Momenten die Tragik der Ereignisse anzudeuten, setzt Bellocchio diesmal auf fast schon überbordenden Bombast. Exquisit ausgestattet ist „Kidnapped“, in eindrucksvollen historischen Gebäuden gefilmt, in dunklen, bedrohlich anmutenden Farben, an der Engelsbrücke in Rom, am Petersplatz. Vor allem die Musik ist es, die mit großem Getöse versucht, Emotionen zu erzeugen. Mit symphonischen, bisweilen ohrenbetäubenden Orchesterklängen unterlegt Bellocchio die Bilder von Machtmissbrauch und Arroganz der Kirche. Welche Tragik die Entführung eines sechsjährigen Kindes für seine Familie und das Kind selbst bedeutete, lässt sich unter all dem inszenatorischen Überschwang nur erahnen. Als Nachzeichnung einer historischen Episode, die einen gewissen Anteil an der Entstehung des italienischen Staates hatte, mag „Kidnapped“ überzeugen, als Film über Menschen und ihre Emotionen tut er dies jedoch nur bedingt.
Fazit: Mit großem Bombast inszeniert der legendäre italienische Regisseur Marco Bellochio den wahren Fall der Entführung eines jüdischen Kindes durch die katholische Kirche. Stilistisch ist das zwar eindrucksvoll, emotional bleibt „Kidnapped“ aber meist distanziert und kalt.
Wir haben „Kidnapped“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.