Ein etwas anderer Katastrophen- und Survival-Thriller
Von Oliver KubeNach ihrem vielfach preisgekrönten Durchbruch mit dem Serien-Hit „Killing Eve“ war eigentlich zu erwarten, dass Jodie Comer nun auch in großen Blockbuster-Rollen zu sehen sein würde. Angebote dafür dürfte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch reihenweise erhalten haben (und noch weiter bekommen). Mit Ausnahme der Nebenrolle in der Action-Komödie „Free Guy“ an der Seite von Ryan Reynolds hat sie bisher aber offenbar Abstand davon gehalten, diese anzunehmen.
Stattdessen tritt die Britin lieber in Historien-Werken wie Ridley Scotts „The Last Duel“ und dem kommenden „The Bikeriders“ sowie vor allem auf den Theaterbühnen im Londoner Westend und am Broadway in New York City auf. Da sorgte die Meldung, dass Comer an der Seite von unter anderem Marvel-Star Benedict Cumberbatch („Doctor Strange“) die zentrale Hauptrolle in „The End We Start From“ – einem Katastrophen-Thriller mit Sci-Fi-Elementen – verkörpern würde, natürlich für Aufsehen.
Allerdings handelt es sich beim Spielfilm-Debüt der Serien-Regisseurin Mahalia Belo („Requiem“, „The Long Song“) gerade nicht um ein Popcorn-Spektakel auf den Spuren von Filmen wie „The Day After Tomorrow“ oder „San Andreas“. Anstatt auch nur ansatzweise vergleichbar auf den Putz zu hauen, dominieren in dem auf einem Roman von Megan Hunter basierenden Indie-Projekt eher ruhige, atmosphärische Töne. Der primär als Produzent agierende Cumberbatch ist selbst sogar nur für ein paar (allerdings sehr gelungene) Minuten zu sehen. Was nicht bedeutet, dass das Drama weniger Eindruck hinterlässt als Hollywoods sauteure Mega-Spektakel. Ganz im Gegenteil...
» Die Buchvorlage "Vom Ende an" bei Amazon*
London in nicht allzu ferner Zukunft: Eine hochschwangere Frau (Jodie Comer) ist allein in ihrem Häuschen, als es draußen zu tröpfeln beginnt. Innerhalb kurzer Zeit, erst einmal, ohne dass sie es überhaupt richtig registriert, mutiert das eben noch beruhigende Plätschern zu sintflutartigen Regenfällen. Während der Strom ausfällt und überall Wasser in ihr Heim eindringt, setzen bei ihr plötzlich die Wehen ein. Obwohl zunächst kein Rettungsdienst zu erreichen ist, schafft sie es dennoch irgendwie ins überfüllte Krankenhaus.
Als sie ihr Kind erstmals in die Arme schließt, ist auch ihr Ehemann R (Joel Fry) endlich eingetroffen. Weniger Glück hat die kleine Familie mit ihrer Unterkunft. Denn die ist nun komplett unbewohnbar – so wie der Rest der mittlerweile hoffnungslos überfluteten Metropole. Neben Tausenden von anderen Bewohnern machen sich die beiden mit ihrem Baby in den etwas höher gelegenen Norden des im Chaos versinkenden Landes auf. Dort findet das Paar bei R's Eltern (Nina Sosanya, Mark Strong) erst einmal Ruhe und Unterschlupf. Doch dann kommt es auch hier zu einer Katastrophe…
Ab hier beginnt eine Reise der namenlosen Protagonistin. Schon recht früh im Handlungsverlauf wird sie von ihrem Partner getrennt. Allein mit ihrem Baby muss sie zusehen, wo und wie es weitergeht. An immer neuen Orten trifft sie dabei auf die unterschiedlichsten Figuren. Einige von ihnen – wie ein nach dem Verlust seiner Lieben verzweifelter Mann (Benedict Cumberbatch) oder eine andere junge Mutter (exzellent: Katherine Waterston aus der „Phantastische Tierwesen“-Reihe) – erscheinen vertrauenswürdig und hilfreich. Um viele weitere Begegnungen hätte die Frau lieber gleich einen Bogen machen sollen.
Manche dieser Figuren sind für einen Abschnitt wichtig für die Geschichte, sie alle verschwinden dann allerdings auf die eine oder andere Weise recht schnell wieder aus dem Blickfeld. „The End We Start From“ erinnert so mehr an Road-Movies als an Survival- oder Katastrophen-Dramen. Vor allem John Hillcoats „The Road“ mit Viggo Mortensen als besorgtem Single-Vater in einer postapokalyptischen Welt drängt sich als Vergleich auf. Auch die Adaption des Romans von Cormac McCarthy setzt eher auf Atmosphäre und Emotionen als auf reißerische Effekte. „The End We Start From“ ist in dieser Hinsicht sogar noch einmal einige Stufen zurückhaltender inszeniert.
So werden die Erwartungen von Katastrophenfilm-Fans an die Erfüllung bestimmter Konventionen des Genres konsequent unterlaufen – und das nicht nur, weil nach vielen Viren-Epidemie-Filmen der jüngeren Vergangenheit hier mal ein anderes Szenario gewählt wird. Dass die Klimakrise an dem unfassbaren Regen, der auf eine zuvor monatelange Dürre folgt, schuld ist, buchstabiert der Film nie aus – wie auch viele andere Dinge. Beschränkt sich das Phänomen nur auf Großbritannien? Wir wissen es nicht. Denn über die gesamte Lauflänge des Films gibt es keine Informationen, wie es in anderen Teilen der Welt aussieht.
Vor allem hält sich „The End We Start From“ in Sachen Schauwerten merklich zurück. Eine gigantische, computergenerierte Flutwelle, die Roland Emmerich sicher eingebaut hätte, gibt es hier nicht. Auch keinen vergleichbaren Hokuspokus. Es regnet einfach nur ziemlich viel. Die daraus resultierenden Desaster finden – abgesehen von kurzen und eher bescheiden inszenierten Einzelmomenten – im Off statt.
Regisseurin Belo und ihre Drehbuchautorin Alice Birch („Lady Macbeth“) praktizieren diese Verlagerung ins Off nicht nur bei der durch die Naturgewalt angerichteten Katastrophe so. Auch die gesellschaftlichen sowie die ganz persönlichen Dramen bekommen wir meist nicht direkt gezeigt. Wir sehen oft nur ihre Auswirkungen und Resultate. Dies macht „The End We Start From“ durchaus zu einer Herausforderung für das Publikum. Nach jedem Sprung zu einer neuen Szene müssen wir uns erst einmal orientieren.
Gelungen versetzen uns Belo und Birch damit in die Lage ihrer Hauptfigur. Auch diese muss sich nämlich auf ihrer Reise immer wieder erst einmal mit den neuen Gegebenheiten, ihren Hintergründen und potenziellen Konsequenzen vertraut machen. „The End We Start From“ zieht daraus seinen ganz besonderen Reiz. Es ist schließlich immer erfreulich, wenn Filmschaffende ihrem Publikum etwas zutrauen und nicht glauben, ihm wirklich jeden Happen an Information schön verdaulich, am besten noch vorgekaut servieren zu müssen.
Wie effektiv dieser Ansatz ist, zeigt eine Szene, die dann doch ein klein wenig an die spektakulären Bilder klassischer Genre-Titel erinnert. Ein paar Figuren tuckern mit einem Motorboot durch die einige Meter hoch überfluteten Straßen Londons geradewegs auf die im Hintergrund aus dem Wasser ragende St. Paul's Cathedral zu. Der CGI-Einsatz ist dabei relativ sparsam, aber effektiv. Die ganze Szene ist recht kurz. Dennoch wirkt sie mit Blick auf den Rest des Films fast ein wenig alibimäßig hineingepackt – vielleicht als ein Zugeständnis an den Teil des Publikums, der sich aufgrund der Einordnung „Katastrophenfilm“ in eine Vorführung verirrt hat? Wirklich notwendig ist die Sequenz jedenfalls nicht.
Denn „The End We Start From“ fesselt gerade mit seinen ruhigen Momenten. Das ist in erster Linie ein Verdienst der Hauptdarstellerin: Jodie Comer versteht es einmal mehr mit ihrem nuancierten Spiel zu begeistern. Ihre Verkörperung einer Frau, die zum ersten Mal die Freuden, aber auch die Verantwortung beziehungsweise Lasten der Mutterschaft erlebt und eine wunderschöne, immer enger werdende Beziehung zu ihrem Kind aufbaut, während ihr bis dahin vertrautes und offenbar glückliches Leben zerbricht, ist herzzerreißend. So ist Jodie Comer der größte und beste Spezialeffekt dieses kleinen, aber wunderbaren Films.
Fazit: Eine fantastische Jodie Comer brilliert in einem ruhigen, atmosphärischen und dabei emotional intensiven und aufwühlenden Charakter-Drama vor dem Hintergrund einer gewaltigen Naturkatastrophe.
*Bei dem Link zum Angebot von Amazon handelt es sich um einen sogenannten Affiliate-Link. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision.