Magischer Realismus aus Mexiko
Von Michael MeynsMehr als ein Hauch von magischem Realismus weht durch den mexikanischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Tótem“, ein Familiendrama, das auch aus der Feder des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez stammen könnte. Der Film spielt fast ausschließlich in einem Haus, das mit seinen vergilbten Tapeten, den aus Ritzen hervorkrabbelnden Insekten fast selbst wie ein Lebewesen wirkt und so auch als eine der Hauptfiguren des von „Tótem“ fungiert.
In diesem Haus findet die Geburtstagsfeier für den todkranken Tonatiuh (Mateo García Elizondo) statt, zu der alle möglichen Bekannten und Verwandte kommen, vor allem aber auch seine siebenjährige Tochter Sol (Naíma Sentíes). Durch deren kindlichen Augen zeigt Regisseurin Lila Avilés das Geschehen, schamanische wie weltliche Rituale, die für sich genommen oft eindringliche Momente bilden, die jedoch nie ganz zusammenfinden. Am Ende bleibt „Tótem“ ein filmisch ambitionierter Versuch mit eindrucksvollen Teilen, die sich nur bedingt zu einem größeren Ganzen formen.
Das Publikum erlebt die Geburtstagsfeier konsequent aus der Perspektive der siebenjährigen Sol (Naíma Sentíes).
Tonatiuh hat Krebs in einem späten Stadium. Im engen Haus der Familie siecht er dahin, während verschiedene schulmedizinische wie traditionelle Methode angewandt werden, um sein Leiden zumindest ein wenig erträglicher zu gestalten. Nun hat er Geburtstag, vermutlich wird es sein letzter sein. Aus diesem Anlass hat seine Familie Verwandte und Freund*innen zusammengerufen, die sich im Garten versammeln, um Tonatiuh zu feiern. Auch seine siebenjährige Tochter Sol ist da und hilft ihren Tanten Nuri (Monserrat Marañon) und Alejandra (Marisol Gasé) bei den Vorbereitungen für eine Überraschungsparty, die schon bald seltsame Formen annimmt – irgendwo zwischen berauschendem Fest und dem Abschied von jemandem, der bereits zum Tode verdammt ist…
Abgesehen von einer kurzen Anfangssequenz spielt „Tótem“ komplett im Haus und dem angrenzenden Garten. Es ist kein herrschaftliches Haus und auch kein ausladender Garten, sondern ein enges, ja geradezu beengendes Gebäude, ein bisschen heruntergekommen, mit verblichenen Tapeten und Räumen, in denen so viele Pflanzen stehen, dass sie fast selbst wie ein Garten wirken. Immer wieder zeigt die Kamera in ihren dichten, im 4:3-Format gefilmten Bildern Nahaufnahmen von Blättern, auf denen oft Insekten krabbeln, oder von Tapeten, deren Muster zu wabern scheinen. Lebendig wirkt dieses Haus, wie ein eigener Charakter in dieser Familiengeschichte, die immer wieder von Krankheit und von Siechtum erzählt.
Sols Tanten wollen ihrem sterbenden Bruder unbedingt noch einen letzten schönen Geburtstag bereiten.
Animistische Rituale werden durchgeführt, Geister beschworen, mit einem brennenden Papiertrichter Ohren gereinigt. Traditionelle Methoden der Heilung, aber auch die Schulmedizin findet Anwendung, Pillen werden genommen, die vielfältigen Krankheiten zu lindern gesucht. Das zumindest nominelle Familienoberhaupt, der Großvater, hatte selbst Kehlkopfkrebs und kann nun nur noch durch eine mechanische Sprechhilfe kommunizieren. Doch so richtig übel hat es seinen Sohn Tonatiuh erwischt, der Krebs hat, der auch durch eine schwächende Chemotherapie nicht zu besiegen ist. In diesem Umfeld zu feiern, mutet im ersten Moment absurd an, doch Tonatiuhs Schwestern setzen alles daran, ihn noch ein letztes Mal hochleben zu lassen.
Es ist eine ausschweifende Großfamilie, die sich an diesem Tag zusammenfindet, sehr viele Figuren, die oft kaum zuzuordnen sind, deren Verhältnisse oft vage bleiben. In loser Szenenfolge inszeniert Lila Avilés diesen Reigen in ihrem zweiten Kinofilm nach „The Chambermaid“, der 2019 große Erfolge auf Festivals feierte und von Mexiko für den Oscar als Bester internationaler Film eingereicht wurde. Großes visuelles Talent hat die 41-jährige Regisseurin ohne Frage. Sie schafft es immer wieder, dichte Szenen zu inszenieren, überraschende Bilder zu finden, ihren Schauspieler*innen, gerade der jungen Darstellerin der Sol, viel Raum zu geben.
So viele Leute in einem so engen Haus – das kann auch verdammt anstrengend sein.
In diesem Wust aus nur vage eingeführten Figuren und flüchtigen Momenten fällt es allerdings nicht ganz leicht, eine durchgehende Linie zu finden. Allzu oft bleiben die einzelnen Szenen Stückwerk, fügen sich die allegorisch aufgeladenen Bildern nicht zu einem größeren Ganzen. Am Ende bleibt „Tótem“ ein fraglos ambitionierter Film, der vor allem auf der Seite der Regisseurin viel Potential offenbart, das sich hier (noch) nicht zu einem vollends überzeugenden Ganzen fügt.
Fazit: Visuell kann Lila Avilés ebenso punkten wie mit der durch seine vom lateinamerikanischen magischen Realismus inspirierte Atmosphäre. Inhaltlich bleibt „Tótem“ jedoch oft zu kryptisch, um vollends zu überzeugen.
Wir haben „Tótem“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.