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    Ich Capitano
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Ich Capitano

    Ein großartiger Abenteuerfilm – vor einem grausamen Hintergrund

    Von Gaby Sikorski

    „Wer nicht aufbricht, findet nie heraus, wo es besser ist.“ So lautet ein Sprichwort im Senegal, wo die Migration schon immer zum Alltag gehört. Früher gingen die Leute auf der Suche nach Arbeit in die nächste Stadt oder ins Nachbarland – dorthin zieht es auch heute noch die meisten. Nur eine kleine Minderheit will nach Europa. „Les Clandestins“ (= „die Heimlichen“) werden im Senegal diejenigen genannt, die illegal in die inzwischen immer stärker abgeschotteten europäischen Länder gelangen wollen.

    Dafür begeben sie sich in Lebensgefahr, egal ob sie die Route über den Atlantik Richtung Kanarische Inseln oder die Strecke über Land durch die Sahara wählen. Viele erreichen ihr Ziel nicht – sie werden getötet, verhungern, verdursten oder ertrinken. Doch wenn sich Abenteuerlust, Naivität, Neugier und der Wunsch nach einem besseren Leben treffen, dann nützen auch deutliche Warnungen nichts. In „Ich Capitano“ erzählt der italienische Regisseur Matteo Garrone („Dogman“) so eine Geschichte.

    Zu Beginn ihrer Reise sind Moussa (Moustapha Fall) und Seydou (Seydou Sarr) noch voller Zuversicht. X-Verleih
    Zu Beginn ihrer Reise sind Moussa (Moustapha Fall) und Seydou (Seydou Sarr) noch voller Zuversicht.

    „Europa erwartet uns!“ Die Teenager Moussa (Moustapha Fall) und Seydou (Seydou Sarr) arbeiten heimlich an ihrem Plan: Sie wollen unbedingt nach Europa, um als Musiker Karriere zu machen. Um das Geld für die Reise zu sparen, schuften sie nach der Schule auf einer Baustelle. Eines Tages ist es endlich so weit. Mit einem klapprigen Bus geht es von Dakar an der Atlantikküste über Tausende von Kilometern durch Mali und Niger bis nach Libyen.

    Spätestens als sie sich für viel Geld gefälschte Pässe kaufen müssen, merken die Jungs, dass sie einen großen Fehler begangen haben. Denn je länger sie unterwegs sind, desto schwieriger wird die Reise. Ihr mühsamer Weg durch die Wüste, zuerst auf einem LKW, dann zu Fuß, wird von Leichen flankiert – das waren einmal Menschen wie sie, mit Träumen und großen Plänen. Wer hier Schwäche zeigt oder sich nicht fügt, ist zum Tode verurteilt…

    Dahin wo es wehtut

    Moussa und Seydou sind schon bald in einem Netz von Gewalt, Korruption und Betrug gefangen, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Der Marsch durch die Wüste in Richtung Libyen wird für sie zur grausamen Grenzerfahrung. Er endet abrupt mit einem Rebellenüberfall, bei dem Seydou und Moussa getrennt werden. Seydou gelingt es mit knapper Not, die fast schon an Horror-Schocker wie „Hostel“ erinnernden Foltersessions in einem libyschen Gefängnis zu überstehen. Als er mit viel Glück wieder in Freiheit ist, hat er nur eines im Sinn: Er will Moussa wiederfinden und endlich mit ihm nach Europa fahren. Doch um seinen Freund zu retten, soll er – ein Teenager ohne jede nautische Erfahrung – ein klappriges, mit Flüchtenden überladenes Schiff über das Mittelmeer fahren.

    Die dramatische Handlung um zwei naive Jungs, die sich plötzlich in einem gnadenlosen Überlebenskampf wiederfinden – das ist eigentlich ein klassischer Abenteuerstoff, und so ist „Ich Capitano“ vorrangig auch ein handwerklich sehr gut gemachter, fesselnder Abenteuerfilm. Doch durch die aktuellen Bezüge erhält die Geschichte von den beiden Teenagern, die es in die Fremde zieht, eine grausame Brisanz, die weit über das hinausreicht, was ein durchschnittliches Kinoabenteuer bietet. Was Seydou und Moussa widerfährt, passiert tatsächlich: die Odyssee durch Afrika, die Gefangennahme, die Folterhaft, um Geld aus ihren zurückgebliebenen Familien zu erpressen – all das ist brutale Realität, ebenso wie die durch und durch mafiösen Strukturen des Menschenhandels.

    Von den Schleusern zum „Kapitän“ ernannt, ist Seydou plötzlich für Dutzende Menschenleben verantwortlich – und das ohne jede Erfahrung! X-Verleih
    Von den Schleusern zum „Kapitän“ ernannt, ist Seydou plötzlich für Dutzende Menschenleben verantwortlich – und das ohne jede Erfahrung!

    Der italienische Autor und Regisseur Matteo Garrone hat sich dafür entschieden, den Fokus seines Films auf die Reise durch Afrika zu legen, und deshalb geht es nur marginal um Europa und um den Umgang der EU mit Migrant*innen. „Ich Capitano“ ist also kein Flüchtlingsdrama im üblichen Sinn. Im Mittelpunkt der Handlung steht der liebenswerte Seydou, der zu Beginn noch zweifelt, ob er die große Reise wirklich wagen soll. Er lässt sich von dem selbstbewussteren Moussa überzeugen, den Moustapha Fall mit spitzbübischer Lässigkeit spielt. Wie Seydou seine Naivität verliert, ist für ihn ein schmerzlicher Prozess, denn auf jeder einzelnen Station der Odyssee geht es um Leben oder Tod. Nur hin und wieder wird auch einen Funken Menschlichkeit sichtbar, bei seinen Leidensgenossen, aber hauptsächlich bei Seydou selbst.

    Seydou Sarr spielt diesen Jungen mit nimmermüdem Optimismus, den man zu Beginn noch kindlich nennen könnte und der im Verlauf der Handlung zu einer Art Überlebenshilfe wird. Parallel dazu entwickelt sich Seydou vom naiven Kind zum Erwachsenen, und Seydou Sarr spielt diese schwierige Entwicklung sehr einfühlsam und ernsthaft. Wie Seydou immer wieder vom Schicksal oder vom Zufall gerettet wird, ist manchmal nicht ganz glaubwürdig, aber das ist verzeihlich angesichts einer komplexen, spannenden Handlung, die sich in beeindruckenden und manchmal geradezu magischen Bildern präsentiert. Matteo Garrone zeigt darin die ganze Schönheit, aber auch die Gefahren, die auf der langen Reise lauern.

    Grandiose Bilder

    Da ist vor allem die unglaublich weite Landschaft – die Wüstenbilder sind vermutlich die schönsten seit „Lawrence von Arabien“. Wie winzige Püppchen erscheinen die Reisenden zwischen den endlosen Sanddünen. Für die konkreten Gefahren auf der Reise nach Norden sind meistens die Menschen verantwortlich: brutale Rebellen, gewissenlose Betrüger, die den Reisenden die letzten Geldreserven entlocken, widerliche Menschenhändler und korrupte Militärs. Sie alle profitieren vom Elend und von der rigiden Abweisungspolitik der europäischen Staaten. Vielleicht ist es der größte Verdienst dieses Films, dass er diese Machenschaften realistisch (und das heißt mitunter eben auch sehr brutal und blutig) darstellt.

    So könnte sich hier die übergeordnete Botschaft von „Ich Capitano“ verstecken: ein Appell zur Bekämpfung von Korruption und Sklavenhandel, von Schleusern und Menschenschmugglern. Jedoch präsentiert sich der Film keinesfalls als offenes politisches Statement, sondern vor allem als gelungenes Kinoabenteuer, das bis zum Schluss spannungsgeladen und unterhaltsam bleibt. Denn über allem steht die Frage, ob es den beiden Jungs gelingen wird, ihr Ziel zu erreichen.

    Fazit: Weniger Flüchtlingsdrama im herkömmlichen Sinne, sondern ein atmosphärisch starker, sehr unterhaltsamer Abenteuerfilm von beinahe episch homerischen Ausmaßen mit zwei sehr sympathischen Hauptdarstellern, die sich mit jugendlicher Naivität auf die Reise nach Europa machen und in eine lebensgefährliche Odyssee geraten.

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