DIE PFÄNDUNG VON LEBENSZEIT
Oft kommt es einem vor, dass das Leben wie im Flug vergeht. Deutlich wird’s bei den eigenen Kindern, denn die wachsen schnell heran, und während sie älter werden, in die Pubertät kommen und dann ihren Abschluss machen, ist diese Zeitspanne zum Erwachsenwerden an einem selbst nicht spurlos vorübergegangen. Ganz im Gegenteil: Erst jetzt wird deutlich, dass alles ein Ablaufdatum hat, dass uns jene, denen wir ins Leben geholfen haben, ersetzen werden. Und so wechselt Generation mit Generation, während das Streben nach dem ewigen Leben in Film und Fernsehen seine Gestaltungsformen und Interpretationen sucht. Gerade das erschreckende Bewusstsein, dass die Jahre wie im Schnelldurchlauf vergehen, ohne dass sie wahrgenommen wurden, dient gerne als dystopisches Szenario in Near-Future-Filmen und wird zum körperlosen Antagonisten, zur erbarmungslosen Entität. Zu einem tyrannischen Zustand, den sich manche der wenigen milliardenschweren Gewinner eines dahinsiechenden Systems zu eigen machen – um noch mehr zu lukrieren. Und das ganze Drumherum als kaufbares Elysium präsentieren.
Die Rede ist dabei von Paradise, einem deutschen und auf Netflix gerade sehr erfolgreichen Science-Fiction-Thriller, der die Zukunft als ausweglose Konsequenz gegenwärtiger Zustände weitertreibt. In dieser Vision von Morgen ist es der Wissenschaft gelungen, durch exzessive Genforschung Lebensjahre zu transplantieren. Es gibt also nicht nur Organspender wie schon seit jeher, sondern auch die Möglichkeit, aufgrund der Abgabe von Lebenszeit finanziell fein raus zu sein, sofern man in Geldnöten steckt. Alles ist plötzlich möglich, und ein paar Jährchen mehr oder weniger werden schließlich nicht ins Gewicht fallen, sind die doch ordentlich Kapital wert. Das Establishment profitiert – es verjüngt sich, lebt länger bis fast ewig. Die Welt, die Boris Kunz hier beschreibt, ist das Paradies einzig und allein für die Reichen. Ist das Ideal für den Kapitalismus, der sich am Diesseits vergreift wie ein Parasit. Und Max Toma (Kostja Ullmann), glücklich verheiratet mit Gattin Elena, ist einer derjenigen, die im Außendienst potenziellen Kunden ihre Lebensjahre im wahrsten Sinne des Wortes von den Rippen leiert. Ein Gevatter Tod für den Zwischenstand, ein profitbringendes Geschäft aus dem Jenseits. Selbst dort denkt man nur noch an den Mammon.
Da passiert es eines Tages, und das glückliche Paar steht nach einem Wohnungsbrand plötzlich auf der Straße. Selbstverschulden, heißt es von Seiten der Versicherung, die keinen Cent bereit ist zu zahlen. Was Max aber nicht wusste: Elena hat als Sicherheit ihre Jahre gepfändet – sage und schreibe fast vierzig davon. Der Horror wird Realität und die junge Ehefrau muss unters Messer. Der körperliche Verfall passiert zwar nicht im Zeitraffer, aber von heute auf morgen. Sophie Theissen, der CEO von Aeon, dem einzigen offiziellen Monopol in Sachen Lebenszeit, sichert Max ihre Hilfe zu – doch das bleibt ein Lippenbekenntnis. Als plötzlich klar wird, dass die Grand Dame Elenas entzogene Lebenszeit für sich selbst gepachtet hat, ist die Wahl der Waffen zur Rückholung des gemeinsamen Glücks eine, die man gut und gerne als schmutzig bezeichnen kann. Aus dem vorbildlichen Mitarbeiter des Konzerns wird ein Rebell. Und nicht nur Max, auch die nun ältere Elena (Theater- und auch Burgschauspielerin Corinna Kirchhoff) radikalisiert sich im Bestreben für Gerechtigkeit zusehends.
Das futuristische Drama erinnert unweigerlich an den von Andrew Niccol geschriebenen und inszenierten Thriller In Time – Deine Zeit läuft ab mit Amanda Seyfried und Justin Timberlake. Auch dort wird Lebenszeit zur Weltwährung – mit fatalen Folgen, aber letztlich doch ganz anders konzipiert, vielleicht auch weit unrealistischer als in vorliegendem Streifen. In In Time ist bei jeder Person die Lebenszeit auf 25 Jahre reduziert, natürlich aufgrund des akuten Problems des Überbevölkerung. Eine implantierte Uhr zeigt das letzte Lebensjahr, welches allerdings immer wieder verlängert werden kann, wenn man das nötige Kleingeld hat. In Paradise lebt der Mensch in bewährter Weise vor sich hin, so, wie wir es kennen. Es sei denn, er braucht Geld – oder Leben.
Die Idee ist interessant und auch ganz gut durchdacht. Mit Iris Berben als undurchsichtige und über allen Dingen stehende Ikone einer wirtschaftlichen Weltmacht lässt sich die Unbarmherzigkeit des Kapitalismus in einer fast schon bis ins Abstrakte überhöhten Figur bannen. Auch Marlene Tanczik und Corinna Kirchhoff als ein und dieselbe, aber jüngere wie ältere Person ergänzen sich prächtig und lassen ihre Altersrollen zu einem einzigen, stringenten Charakter verschmelzen. Abgesehen davon aber erreicht Paradise niemals so richtig die Wucht und Wirkung eines großen Kinofilms. Es liegt nicht nur an Kostja Ullmann, keine Frage. Vielleicht aber vielmehr daran, dass Boris Kunz vom Fernsehen kommt und es ihm schließlich schwerfällt, die epische Tragweite dieser verkorksten Zukunft entsprechend zu vermitteln. Trotz seiner Akkuratesse und sozialphilosophischen Dringlichkeit arbeitet sich das Thema, eingeschläfert durch unzählige Nacht- und Nebelszenen, nur zaghaft voran. Relativ banal handelt Paradise überdies den Rechtsstaat ab, der angesichts dieser tragischen Ausgangssituation überhaupt nicht existiert, der aber mit Sicherheit ein Wörtchen mitzureden hätte. Die obligate Rebellengruppe, die es als Kontrapunkt natürlich geben muss, entzieht sich selbst aufgrund ihres plakativen Idealismus ihre eigene Existenzberechtigung. Sie wird zum Dekorationselement – wie so einiges in einem Film, der mit mehr Budget und der richtigen Person im Regiestuhl ordentlich Zündstoff für Diskussionen mitgebracht hätte. Mit dem Eindruck aber, den Paradise hinterlässt, denkt man maximal an den eigenen nächsten Geburtstag.
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