Der Horrorfilm des Jahres macht unfassbar viel Spaß!
Von Christoph PetersenWer heute nicht aufräumt, muss es morgen tun. Wer seine Hausaufgaben nicht macht, bekommt später einen miesen Job. Und wer beim Büfett zuschlägt, passt irgendwann nicht mehr in seine Hosen. Im Leben ringen stets mehrere Ichs miteinander – das von jetzt mit dem von morgen mit dem von nächster Woche mit dem vom nächsten Jahr: Welches Ich muss die ganze Arbeit machen, und welches Ich darf die Lorbeeren genießen? Natürlich bleibt man die ganze Zeit dieselbe Person, aber irgendwie auch nicht. Da ist man dann sauer auf sein eigenes Vergangenheits-Ich, dass nicht dieses oder jenes längst erledigt wurde.
In ihrer unfassbar stylischen und komplett durchgeknallten Body-Horror-Satire „The Substance“ treibt Coralie Fargeat dieses Konzept – angereichert mit einer schlagkräftigen Kritik an Hollywoods Jugendwahn – konsequent auf die Spitze: Dank der titelgebenden Substanz bekommt die von ihrem schleimigen Produzenten Harvey (Dennis Quaid) aussortierte TV-Aerobic-Ikone Elizabeth Sparkle (Demi Moore), einst eine oscarprämierte Schauspielerin mit eigenem Stern auf dem Walk of Fame, noch einmal die Chance, jung zu sein. Allerdings gibt es klare Regeln – und diese zu brechen, hat dramatische Folgen.
Nach der ersten Spritze krümmt sich die nackte Elizabeth vor Schmerzen auf dem weiß gefliesten Badezimmerboden ihrer Luxuswohnung mit Wahnsinns-Blick über Hollywood. Ihr Rückgrat scheint regelrecht aus ihr heraus zu bersten, als sich ihr Körper entlang der Wirbelsäule öffnet und ihr zweites Ich aus ihr hervortritt: Jetzt übernimmt Sue (Margaret Qualley), die erstmal die leere Hülle von Elizabeth notdürftig zusammenflickt und ihr mit einer sehr, sehr langen Spritze eine Knochenmark-artige Flüssigkeit aus dem Körper zieht, die sie sich fortan einmal pro Tag verabreichen muss. Allerdings reicht diese nur für eine Woche, dann muss wieder getauscht werden.
Sieben Tage Sue, sieben Tage Elizabeth, ohne Ausnahme, so sagt es die Stimme am Telefon, wenn man die Nummer der geheimen Substance-Hotline wählt. Aber Sue hat jetzt die Karriere, schleppt die heißen Typen ab, wird von allen geliebt und bewundert, während Elizabeth nur noch zu Hause herumsitzt und sich die Wampe vollschlägt. Es ist – zumindest in der Theorie – dasselbe Bewusstsein, das zwischen den beiden Körperhüllen hin und her wechselt, und doch entbrennt ein regelrechter Kleinkrieg zwischen den beiden Ichs, wenn Sue mit fatalen körperlichen Konsequenzen für Elizabeth immer wieder ihre Zeit überzieht…
„The Substance“ ist der pure Exzess – und das nicht erst im grotesken Finale, bei dem in einem TV-Studio so viel Kunstblut spritzt, dass man glauben könnte, jemand hätte die Sprinkleranlage mit dem roten Lebenssaft gefüllt. Aber das ist man von Fargeat ja schon gewöhnt: Schließlich schlagen sich die Kontrahent*innen in ihrem Debüt, dem famos-feministischen Rache-Thriller „Revenge“, nur deshalb nicht noch kräftiger die Schädel ein, weil sie ständig auf dem bereits vergossenen Blut auf dem Küchenfußboden ausrutschen. Dazu kommen im Fall von „The Substance“ noch prothetische Creature-Effekte, die dermaßen drüber sind, dass man sich zugleich ganz köstlich amüsiert, im selben Moment aber auch Albträume von ihnen bekommen wird.
Bis dahin geht Fargeat mit ihrer Fischaugen-Kamera ganz, ganz nah ran an das Gesicht von Dennis Quaid („The Day After Tomorrow“), wenn er sich am Pissoir erleichtert oder sich im Restaurant schmatzend die Shrimps ins Maul stopft. Eine grandiose Schmierlappen-Performance. Ähnlich nah fährt die Kamera auch immer und immer wieder an den Hintern der Aerobic-Tänzerinnen und speziell an dem von Margaret Qualley („Kinds Of Kindness“) entlang. Ein männlicher Regisseur hätte dafür sicherlich einiges an Kritik einstecken müssen, aber bei Fargeat ist es ein satirisches Feuerwerk gegen den Male Gaze und den Jugendwahn der Traumfabrik.
Im Gegensatz zu den perfekten Hochglanz-Bildern der Aerobic-Sendungen, die sich am Ende wohl mindestens so viele notgeile Männer wie tatsächlich mittrainierende Frauen im Fernsehen anschauen, liefert Demi Moore („Eine Frage der Ehre“) eine komplett uneitle Performance. Zwar hat sie auch mit 60 noch einen Body, für den viele töten würden, aber in „The Substance“ macht sie sich körperlich wie seelisch nackig, wenn Elizabeth am Vergleich mit der makellosen Sue zu zerbrechen droht. „Man muss sich immer wieder klarmachen, dass man auch selbst noch etwas wert ist“, erklärt ihr ein anderer Substance-Nutzer.
Aber das ist einfacher gesagt als getan. Und so sitzt man die Zeit ab, bis endlich wieder das perfekte Ich dran ist – ein Psycho-Duell mit sich selbst, bei dem es nur Verlierer*innen geben kann. Es ist eine zutiefst tragische Rolle, die Moore aber mit traumwandlerischer Sicherheit und offensichtlichem Spaß am Exzess zunehmend in Richtung hemmungslos-satirischer Pulp übersteigert – ähnlich wie einst Meryl Streep in „Der Tod steht ihr gut“. Womöglich ist das für die Academy-Awards-Wähler*innen, die sich ja traditionell einfach viel zu ernst nehmen, alles ein paar Nummern zu crazy. Aber in einer gerechten Welt würde der „Ghost – Nachricht von Sam“-Star für „The Substance“ seine erste Oscarnominierung einfahren.
Fazit: Eine super-stylische Body-Horror-Satire, die nicht nur Biss hat, sondern auch unglaublich viel Spaß macht. Ein absolut einzigartiger Trip von einem Film, den wirklich jeder Fan von Genrekino miterlebt haben muss.
Wir habe „The Substance“ auf dem Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.