Das asiatische Kino schlägt nicht selten aus der Art, weswegen ihm dort und auch bei eingeschworenen Fans auf westlichem Territorium ein besonderer Leumund vorauseilt. Auf dem flächenmäßig größten Kontinent der Erde wird Filmkunst eben noch groß geschrieben - die Sehgewohnheiten des Publikums müssen dabei häufig hinten anstehen. Im Normalfall fällt es auch nicht allzu schwer, sich auf einen solchen Kulturschock einzulassen, doch wehe man gerät an einen Film des japanischen Skandalregisseurs Takashi Miike (“Visitor Q”). Da kann es dann ohne Weiteres schon mal vorkommen, dass man den Kinobesuch schneller bereut als man denkt. Sein Psycho-Horrordrama “Audition” beginnt zwar ganz sachte als zärtliche Lovestory, doch ehe man sich versieht, geht Miike zum ultrabrutalen Frontalangriff auf die Nerven der Zuschauer über. Und obgleich sich der Regisseur einen Dreck um Moral oder guten Geschmack schert, ist ihm ein handwerklich nahezu perfekter Genrefilm gelungen, dem man ein paar kleinere Startschwierigkeiten gerne nachsieht.
Abgeschirmt von der Außenwelt lebt der verwitwete Geschäftsmann Shigeharo Aoyama (Ryo Ishebashi) in den Tag hinein, bis ihn sein Sohn dazu überredet, sich auf die Suche nach einer neuen Frau zu begeben. Ein Freund Aoyama`s, der als Fernsehproduzent tätig ist, hat eine blendende Idee: Er organisiert ein fingiertes Schauspielcasting, bei dem viele Frauen vorsprechen sollen, von denen Aoyama sich dann eine als neue Lebenspartnerin aussuchen kann. Gesagt, getan. Eine Bewerberin nach der anderen spricht vor, bis die junge Asami (Eihi Shiina) auf dem Stuhl in der Mitte des Castingssaals Platz nimmt, die dem Witwer sofort ins Auge springt. Aoyama wähnt sich in dem Glauben, in der schüchternen Schönheit endlich seine Traumfrau gefunden zu haben und trifft sich fortan regelmäßig mit ihr. Doch mit der Zeit wächst in ihm Misstrauen gegenüber dem stillen Mauerblümchen, in dessen Erzählungen alsbald seltsame Widersprüche zu Tage treten. Und dann ist Asami nach einer Liebesnacht plötzlich spurlos verschwunden. Aoyama stellt Nachforschungen an - und taumelt geradewegs in einen Alptraum…
Das Grauen schleicht sich lautlos an - und schlägt dann wie aus dem Nichts zu: Weder Aoyama selbst noch der Zuschauer dürften zu Beginn der Geschichte bemerken, welch schwarze Gewitterwolken sich in aller Ruhe über der ahnungslosen Hauptfigur zusammenbrauen. Selbst dann, als sich die bösen Omen häufen, wird sich der von dem gemächlichen Erzählrhythmus nahezu hypnotisierte Betrachter des Films wahrscheinlich kaum ernsthaft aus der Ruhe bringen lassen, auch wenn die grauenvolle Ästhetik der eingestreuten Traumfetzen ein mehr als mulmiges Gefühl in der Bauchgegend hinterlassen sollte. Im letzten Akt lässt Takashi Miike dann den Wahnsinn von der Leine. Was hier an perfekt ausgeklügelten Foltertechniken aufgefahren wird, verdient definitiv das Prädikat “krank“, so dass man im Voraus abwägen sollte, ob man sich nicht doch lieber die Kartoffelchips zum Filmgenuss spart, weil sie einem ansonsten im Hals stecken bleiben könnten. Interessant ist aber, dass auch jener Teil der Kritikerschaft, der sich abschätzig über den “sinnlos zur Schau getragenen Sadismus” äußerte, bereitwillig in die Debatte darüber, in welche Richtung das Gezeigte zu interpretieren sei, einstimmte. Denn ob die Bluttaten Asamis nun der Realität entsprechen oder nur die Phantasie von Aoyama widerspiegeln, wird nicht ansatzweise aufgeklärt. Auch die Frage nach möglichen Motiven muss sich der Zuschauer selbst beantworten. Selbst eine dahingehende Interpretation, dass bereits die Kennenlernphase des Pärchens nur eine Illusion des Protagonisten war, lässt “Audition” zu. Die surrealistische Ebene, auf der sich der Film damit bewegt, ist elegant ausgelotet und zugleich Garant für eine fortwährende Existenz im Gedächtnis des Zuschauers.
Restlos perfide ist natürlich der Kniff Miike`s, das Böse, Gefährliche, das unerbittlich Brutale ausgerechnet unter der reinen, jungfräulichen Oberfläche der wunderschönen Asami offenbar werden zu lassen, die in den langen, gemäßigten Einstellungen, wenn die Kamera sie im Blick hat, wie die personifizierte Unschuld wirkt. Asami, das stille Wasser - die Fassade könnte kaum trügerischer sein. Das bittere Ende steht vollkommen im Kontrast zu dem, was Takashi Miike einem fast anderthalb Stunden lang als behutsame Liebesgeschichte zweier von der Gesellschaft entfremdeter Menschen verkauft hat. Viel zu lang sind die Verschnaufpausen zwischen den kurzen, warnenden (Alp-)traumsequenzen, als dass das Publikum sich bei der Manipulation, die der japanische Regisseur an ihm vornimmt, ertappt fühlen würde. Aber nur so kann Miike ebenjenes Publikum wirksam auf die brutale Schlussoffensive vorbereiten, in der er sein Potenzial als Kinoprovokateur dann voll auszuschöpfen weiß.
Trotz seines stark reduzierten Tempos, durch das der Film am Anfang etwas schwerlich von der Stelle kommt, ist “Audition” in seiner Konsequenz doch ein echter Takashi Miike. Der mit Sorgfalt angerührte Schocker-Cocktail, den Quentin Tarantino unlängst als einen seiner Favoriten aus der jüngeren Filmhistorie bezeichnete, ist ganz bestimmt kein Film, den man sich mal soeben zur Entspannung anschaut, sondern ein psychologisch fordernder, knallharter Alptraum, der unablässig an der Spannungsschraube kurbelt und der fies an die Nieren geht. Feingeister und westliche Kinogänger, die auf dem Terrain der Asia-Exploitation Laien sind, wären gut beraten, die Finger von “Audition” zu lassen - ansonsten könnten sie sich an diesem bis ins Mark unbarmherzigen Stück Zelluloid eventuell verschlucken.