Vorsicht: Takeshi Miikes „Audition“ beginnt etwas schwerfällig als düstere Liebesgeschichte, wandelt sich im Laufe des Films immer mehr zum subtilen Psychohorror, um dann, in seinem schwer-erträglichen letzten Viertel schockierend unsubtil endgültig auf den Magen des Zuschauers loszugehen: Konsumenten, die diesen Film nicht rechtzeitig ausschalten, werden ihn unter Umständen noch eine Zeit lang verdauen müssen.
Seit dem Tod seiner Frau vor sieben Jahren lebt Shigeharo Aoyama (Ryo Ishibashi) immer noch mit seinem Sohn allein. Erst auf dessen Drängen entscheidet Aoyama, die selbst gewählte Einsamkeit zu verlassen und sich, um mit der Vergangenheit abzuschließen, auf die Suche nach einer neuen Frau zu machen. Als Aoyoma einem befreundetem Filmproduzenten von seinem Vorhaben erzählt, bietet dieser dem Witwer an, ein fingiertes Casting für einen fiktiven Film zu arrangieren und für die Besetzung der weiblichen Hauptrolle viele Frauen einzuladen, damit sich Aoyama eine von ihnen als neue Gefährtin aussuchen könne. Das Vorsprechen („Audition“) findet trotz anfänglicher Zweifel Aoyamas tatsächlich statt, und wider Erwarten entdeckt er unter den Bewerberinnen tatsächlich eine Frau, in die er sich verliebt. Fortan trifft sich Aoyama häufiger mit der etwas stillen und schüchternen, aber wunderschönen Asami (Eihi Shiina). Im Laufe ihrer Gespräche offenbaren sich allerdings Widersprüche in Asamis Geschichten und schließlich rät auch Aoyamas Freund zur Vorsicht. Aoyamas macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Dabei wird er zunehmend von blutigen Visionen heimgesucht, und schließlich verschwimmen im Film die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Der Zuschauer wird nach und nach in Lynch-ähnliche Grenzregionen des menschlichen Verstandes geführt. Trotz gelegentlich etwas hölzern wirkender Darsteller und einiger Längen in der ersten Hälfte, schafft es „Audition“, seinen Betrachter behutsam und fest zugleich an die Hand zu nehmen und ihn fast unbemerkt gen Hölle zu leiten.
In Filmen beliebt es dem Bösen recht oft, sich hinter der Maske des Unauffälligen, des Harmlosen, des Schönen zu verbergen, um so Einlass zu erlangen in die Welt der Guten, Aufrichtigen, Rechtschaffenden: um dann – hinterrücks – zuzuschlagen! Dabei offenbart das Böse oft erst in allerletzter Sekunde sein Selbst hinter der Fassade und lässt den Helden kaum Zeit, die Bedrohung abzuwenden. Zum Glück ist das Böse oft sehr eitel und zeigt „sein wahres Gesicht“ freiwillig, um sich an der Angst seiner Opfer zu ergötzen. Das Böse in Gestalt der schönen Asami ist anders. Es hat keine Absicht, sich zu früh zu offenbaren und seinem Opfer Aoyama die Chance zu lassen, das Unheil abzuwenden. Assami bleibt – selbst beim grausamen Finale – die perfekte Fassade. Dabei stehen Aoyama und der Zuschauer beinahe Seite an Seite: Beide lassen sich einlullen. Ersterer ist von der Schönheit seiner Traumfrau geblendet und schenkt den warnenden Visionen keine Beachtung, bis es am Ende zu spät ist. Letzterer wird durch die ruhige aber dramaturgisch perfekte Erzählweise Stück für Stück in die Geschichte gezogen und wird – möglicherweise – das projektive Alarmpotenzial der kurzen, unangenehmen Traumsequenzen ebenfalls nicht ernst genug nehmen.
Filme von Takeshi Miike („Visitor Q“, „Dead Or Alive“, „Ichi The Killer“), kleine terroristische Anschläge auf den guten Geschmack des Zuschauers, sind nicht leicht zu ertragen; sie wirken häufig als würde ihr Regisseur mit diebischer Freude seine persönliche Liste der Tabubrüche durchexerzieren. An vielen Szenen erkennt man aber ein hohes Maß an handwerklichem Können und sein Gespür für Originalität, Ästhetik und Timing. Doch nicht immer wird bei einer solchen Aneinanderreihung „ein Film“ daraus. Anders bei „Audition“: Dieser Film ist auf seiner Oberfläche großteils so perfekt wie die Oberfläche Asamis – in ruhiger Erzählweise wird der Zuschauer nach und nach in die kühle Ästhetik des Films und damit seinem bitteren Ende entgegen gesogen.
Inhaltlich ließen sich allerdings eine Reihe von Fragen stellen: Warum das alles? Was sind Asamis Beweggründe? Ist der Film eine blutige Satire auf den „Oberflächenwahn“ unserer Zeit? Wird hier die ewige Suche des Kinos nach Schönheit ad absurdum geführt? Ist er ein geschicktes Spiel mit Täter- und Opferrollen und Asami darin die eigentlich Leidtragende der perfiden Männermachenschaften in einer skrupellosen Männerwelt, wodurch ihre Rache vielleicht unverhältnismäßig hart, aber letzten Endes gerecht wird? Solche und ähnliche Fragen wird sich der Zuschauer am Ende von „Audition“ stellen – stellen müssen. Denn sollte er keine befriedigende Antwort finden für das, was er gerade gesehen hat, so würde er sich mit einem unmotivierten, filmisch perfekt inszenierten Sadismus konfrontiert sehen, dessen Bilder sich in seinem Kopf festsetzen und ihn längere Zeit wie ein Spuk verfolgen könnten. Da ist es nur fair – doch vielleicht auch Teil des psychologischen Verwirrspiels, das Miike mit seinem Zuschauer treibt –dass der Film am Ende die Möglichkeit offen lässt, alles als Alptraum zu deuten.
Das Publikum wird von „Audition“ gespalten: Die Mehrheit befindet ihn nach interpretativem Spießrutenlauf als Meisterwerk. Eine kleinere Gruppe sieht in ihm nicht mehr als einen sinnlosen Ausdruck von Sadismus. Auf welche Seite man sich auch immer schlägt, der Tiefschlag des Films ist gelungen, aber „Audition“ muss sich gefallen lassen, dass man ihm seine potenzielle Tiefe nicht abnimmt und ihm lediglich ein gelungenes Austeilen zuspricht – was es schwer macht, ihn als hervorragend zu bezeichnen. Achtung: „Audition“ ist ein gut gemachter, aber eben dadurch auch ein um so fieserer Film. Was als düstere Liebesgeschichte und als Gesellschaftsdiagnose über Einsamkeit beginnt, was einen da so langsam in den Bann zieht, wandelt sich am Ende zu blankem Horror, der ein unangenehmes Gefühl hinterlässt. „Audition“ liefert Gesprächsstoff, wirft Fragen auf, provoziert – sei aber nur denen empfohlen, die nicht so viel Wert darauf legen, sich nach einem Film „unbeschwert“ zu fühlen.