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    Mutzenbacher
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Mutzenbacher

    Männer, die über Sex reden

    Von Jochen Werner

    Der (kinder-)pornographische Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“ wurde bei seiner Erstveröffentlichung 1906 gleichermaßen zum Bestseller wie zum Auslöser eines großen, sich das ganze nächste Jahrhundert hindurch fortschreibenden Literaturskandals. Inzwischen zwar Felix Salten (dem Autor der literarischen Vorlage zum Disney-Klassiker „Bambi“) zugeschrieben, wurde der Roman anonym und – aus Zensurgründen – auf Subskriptionsbasis publiziert. Er erzählt vom sexuellen Erwachen einer kindlichen Protagonistin, die durch den sexuellen Missbrauch durch so ziemlich alle männlichen Erwachsenen um sie herum – vom Priester bis zum eigenen Vater – ihre eigene unstillbare Lust an der Sexualität entdeckt. Aus der ihr aufgezwungenen sexuellen Aktivität macht sie als Prostituierte zunächst eine Profession und schließlich auch eine Waffe gegen die patriarchale Männerwelt, die in ihren Armen mühelos manipulierbar wird.

    Ein Buch also, das einigen harten Stoff birgt, damals schon und in heutigen Zeiten umso mehr. Am Leben gehalten wurde die zunächst nur in Kleinauflage gedruckte Geschichte durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch mittels einer Reihe von exploitativen Kinoverfilmungen – von einer fast schon avantgardistischen Softsexversion von Kurt Nachmann bis zur Hardcore-Adaption vom Pornoroutinier Hans Billian. Diese Filme wurden zunächst in den 70er-Jahren zu großen Kassenerfolgen und dann in den 80er-Jahren zu omnipräsenten Titeln zunächst in den Videotheken, dann im Nachtprogramm in den Wildwestjahren des noch jungen deutschen Privatfernsehens. Erst ihr Erfolg und ihr Überdauern machten „die Mutzenbacher“ zu jener bekannten, nachgerade sprichwörtlichen Figur, die sie zumindest im österreichischen Raum bis heute ist.

    Das altrosa Blümchensofa ist der Hauptschauplatz von „Mutzenbacher“.

    Die große Dokumentaristin Ruth Beckermann („Waldheims Walzer“) nähert sich dem Mythos in „Mutzenbacher“ durch eine experimentelle Versuchsanordnung: Mittels eines Aufrufs zum offenen Casting lädt sie Dutzende Männer, darunter auch viele Laien ohne Schauspielerfahrung, zum Vorsprechen ein. Hier sollen sie Passagen aus dem Roman lesen und kommentieren, kleine Szenen nachspielen, in die Rolle der weiblichen Protagonistin schlüpfen. Männer unterschiedlichster Generationen sitzen vor der Kamera, immer auf demselben altrosa Blümchensofa, und das Spektrum ihrer Reaktionen auf das Gelesene ist breit. Manche von ihnen kennen den Text in- und auswendig und geben freimütig zu, wie sehr er ihr sexuelles Erwachen geprägt habe. Andere lesen die von Beckermann ausgewählten Passagen vor der Kamera zum ersten Mal und sind geradezu körperlich abgestoßen durch die expliziten Schilderungen von Pädophilie und Missbrauch.

    Wer sich ernsthaft mit der Figur der Josefine Mutzenbacher auseinandersetzt, kommt um eine gewisse Ambiguitätstoleranz nicht herum. So kommt dem Roman literaturhistorisch durchaus eine revolutionäre Rolle zu, er kann als ein Fanal gegen die repressive Sexualmoral seiner Entstehungszeit ebenso gelesen werden wie ihm völlig zu Recht vorgeworfen werden muss, den Missbrauch seiner kindlichen Protagonistin nicht nur zu schildern, sondern selbst zu betreiben. Daran, dass die Männer in der geschilderten Welt die eigentlich Schwachen, Verächtlichen, mit Leichtigkeit Manipulierbaren sind, lässt das Buch keinerlei Zweifel, ihnen gilt seine geballte Kritik. Dass seine Protagonistin jedoch aus Vergewaltigung und Missbrauch so ganz und gar unbeschadet hervorgeht und eigentlich nur die eigene Fähigkeit zur grenzenlosen Lust darin entdeckt, macht sie eben auch zur hochproblematischen Masturbationsvorlage für übergriffige Maskulinität – zumal es sich durch das vorpubertäre Alter der Romanfigur ganz dezidiert um pornografische Schilderungen von Kindesmissbrauch handelt.

    Zu wenig von zu vielen

    Dieser Zwiespalt zwischen Verbot und Kunstfreiheit – einerseits bewegt sich der Roman inhaltlich mindestens an der äußersten Grenze zur Strafbarkeit, andererseits wird ihm literarischer Weltrang zugeschrieben – bescherte „Josefine Mutzenbacher“ eine langwierige Zensurgeschichte. Erstmals wurde das Buch 1982, also nach dem Erfolg der Verfilmungen, in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen – es folgte eine Reihe von Prozessen, die seiner Popularität natürlich keinen Abbruch taten, bis es erst im Jahr 2017 wieder von der Liste gestrichen wurde. Diese lange und kontroverse Geschichte eines Stoffes und einer Figur ist Ruth Beckermanns dokumentarisch-experimenteller Bearbeitung durchweg eingeschrieben, sie nähert sich Josefine Mutzenbacher und insbesondere dem Bild, das Männer verschiedener Generationen von ihr haben oder entwickeln mögen, von einem zunächst nicht wertenden Erkenntnisinteresse aus.

    Völlig überzeugend ist das Ergebnis trotzdem nicht. Daran mag vor allem die Vielzahl der ausgewählten Protagonisten Schuld sein. Denn interessant wird es vor allem dann, wenn die Männer sich – mal bereitwillig, mal zögernd – vor der Kamera zu öffnen beginnen, von sich selbst und ihrer eigenen Sexualität erzählen oder sich an das eigene sexuelle Erwachen zu erinnern beginnen. Diese Momente sind aber eher selten und kurz, und dann geht es mitunter viel zu rasch wieder weiter, wird wieder eine ähnliche oder gleiche Passage gelesen. Dazwischen inszeniert Beckermann immer wieder Gruppensequenzen, in denen sie ganze Männermengen besonders obszöne Romanpassagen chorisch vortragen lässt – eine schöne und auch lustige Spielerei, die das über 100 Minuten irgendwann doch arg redundant anmutende Geschehen etwas auflockert.

    „Mutzenbacher“ ist immer dann am besten, wenn die Männer nicht nur über den Roman reden, sondern darüber auch über ihre persönlichen Erfahrungen reflektieren.

    Insgesamt ist „Mutzenbacher“ sicher nicht als eine Enttäuschung zu betrachten. Der fast 120 Jahre alte Romanstoff ist spannend und keineswegs veraltet, sondern in mancher Hinsicht heute explosiver denn je – und es gibt immer wieder sehr schöne Augenblicke, in denen die Interviewten durch die Konfrontation mit den gelesenen Passagen und mit der Regisseurin plötzlich etwas Intimes von sich preisgeben. Dennoch hätte „Mutzenbacher“ etwas mehr Konzentration gut getan, auf weniger Protagonisten, vielleicht auch auf einige ausgewähltere Textpassagen, um dann etwas tiefer unter die Oberfläche dringen zu können. Der Menschen wie auch der Worte.

    Fazit: Die neue filmische Versuchsanordnung der großen Dokumentaristin Ruth Beckermann ist leider nur teilweise geglückt. Etwas mehr Fokussierung hätte „Mutzenbacher“ gut getan. In der jetzigen Form bleibt zwar die Erinnerung an einige sehr schöne Momente übrig, aber auch der Eindruck einer verpassten Chance, sich einem komplexen und kontroversen Gegenstand mit der notwendigen Tiefe anzunähern.

    Wie haben „Mutzenbacher“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo der Film in der Wettbewerbs-Sektion Encounters gezeigt und dort mit dem Hauptpreis der Jury ausgezeichnet wurde.

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