Stolpern auf dem Drahtseil
Von Mirco LeierDie Prämisse des Films „Martin liest den Koran“ ist so heikel und sensibel, dass Regisseur Juris Saule daran im Grund nur scheitern kann – und das klingt doch erst mal vielversprechend: Der titelgebende Familienvater Martin (Zehjun Demirov), der sich als islamistischer Terrorist vorstellt, kommt zum auf religiöse Exegese spezialisierten Professor Dr. Neuweiser (Ulrich Tukur) in die Sprechstunde und bittet um die passenden Stellen aus dem Koran, um einen kurz bevorstehenden Bombenanschlag doch noch abzublasen.
Der Film versucht, einen Dialog mit dem Extremismus zu ermöglichen, schließlich sei das Verständnis für die Position des Gegenübers das grundlegende Fundament, über Themen zu sprechen, so Co-Autor Michael Lurje bei der Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises 2022. Doch auch wenn das Skript aus rein dramaturgischer Perspektive ausgezeichnet funktioniert, hat es thematisch zu wenig Fleisch an den Knochen, um die Kernfrage des Films ausreichend auszuleuchten. Zumal es die Antwort über weite Strecken an den falschen Enden sucht.
Der Dialog zwischen Martin und dem Koran-Professor, der große Teile der Laufzeit für sich beansprucht, wirkt nur selten wirklich substanziell. Der Film weiß, dass ein Gespräch zweier Parteien, die ein und dieselbe Schrift jeweils so auslegen, dass es ihren eigenen Interessen entspricht, sich fast zwangsläufig irgendwann nur noch im Kreis dreht. Dennoch befeuert er diese rhetorische Abwärtsspirale bis zur Redundanz. Wie konstruktiv ein tatsächlich faktenbasierter Diskussions-Versuch mit dem Extremismus aussieht, kann man anhand der wenigen Kommentare ablesen, die sich unter dem Trailer dieses Films auf YouTube finden. Da rattern anonyme User dieselben Argumente herunter, die auch im Film Verwendung finden – ohne je die Bereitschaft zu zeigen, auch nur ein µ von ihrer Position abzurücken.
„Martin liest den Koran“ ist ein Erstlingswerk, und das sieht man dem Film an – und das ist ja gar nicht zwingend negativ, denn Regisseur Saule hat zu Beginn seiner Karriere eben noch sichtlich Bock darauf, sich erst mal inszenatorisch so richtig auszutoben: Das Spiel mit Kamera-Tricks, Zooms und Kontrasten, sowie einem ständigen Wechsel in eine unbestimmt-subjektive Perspektive, als sei noch eine Art gespenstisches Wesen mit im Raum, verleiht dem kammerspielartigen Geschehen eine stark surreale Note. Nur erscheint die Inszenierungs-Wut hier leider fast ausschließlich als Selbstzweck.
An einer Stelle gehen die Protagonisten einen Flur entlang. Der Professor hält gerade einen Monolog über die Allgegenwärtigkeit Gottes und plötzlich kramt Saule eine Fischaugenlinse aus seiner Trickkiste. Wechseln wir da jetzt also wirklich in die Perspektive des angesprochenen Allgegenwärtigen? Das wäre ja schon eher banal. Oder sah der Effekt einfach nur um letzten Film von Yorgos Lanthimos so cool aus, dass er es nun auch in „Martin liest den Koran“ geschafft hat? Solche Momente gibt es zuhauf. Aber statt den Film zu bereichern, berauben diese Spielereien ihn seiner Dringlichkeit. Sie machen aus einem thematischen Drahtseilakt eine visuelle Zirkusshow.
Mit zunehmender Laufzeit dringt Saule immer mehr zu einem möglichen Lösungsansatz vor. Die Diskussion sollte nicht faktisch, sondern emotional und vor allem persönlich geführt werden. Man kann schließlich jede Zeile des Korans doppelt und dreifach durchkämmen. Die Ursachen, wieso manche Extremisten ihn so interpretieren, wie sie es tun, wird man darin eh nicht finden. Im finalen Akt unterläuft „Martin liest den Koran“ so noch einmal alle Erwartungen, was durchaus effektiv ist, aber trotzdem ein Stück weit wie eine „Komme aus dem Gefängnis frei“-Karte wirkt. Die Alternativen wären wahrscheinlich schlichtweg zu unangenehm gewesen.
Der Wandel der eigenen Gesinnung muss aus einem selbst heraus geschehen, Saule setzt diesen Wandel mit dem Akt der Vergebung gleich, die inszenatorisch in dem stärksten Moment des Films mündet. Nur führt gerade diese Szene dazu, dass er damit im Umkehrschluss die erste Hälfte des Films als obsolet erklärt. Das wirft wiederum die Frage auf, wo dieser Film Extremismus eigentlich begegnen will?
Dass es im Lehrsaal keinen Sinn ergibt, räumt er richtigerweise ein, aber wirkliche Alternativen hat er auch nicht parat. Hin und wieder gewährt er uns einen Blick in die heimischen vier Wände, und kratzt damit an der Oberfläche eines deutlichen spannenderen Themas, dessen Potenzial „Martin liest den Koran“ aber zugunsten einer dramaturgischen Punchline opfert. Gerade auch, weil hier ein ganz spezifischer Einzelfall bebildert wird, der auf der großen Leinwand Spannung provoziert, aber die eigentliche Wurzel des Problems weitestgehend unberührt lässt.
Fazit: „Martin liest den Koran“ offenbart einen wahnsinnig (über-)ambitionierten Regisseur, der mit seinem Debüt durchaus Hoffnung macht, bald ein wenig frischen Wind in die hiesige Filmlandschaft zu bringen. Als mit inszenatorischen Spielereien vollgestopfter Kammerspiel-Thriller funktioniert das auch recht gut. Thematisch aber bleibt das alles zu oberflächlich, um etwas Gehaltvolles zum Extremismus-Diskurs beizutragen.