Einfach mal die Klappe halten – und so ganz großes Kino abliefern!
Von Thorsten HanischIn einer Szene heißt es über Cáit (Catherine Clinch), die Protagonistin von „The Quiet Girl“: „Sie spricht so viel wie nötig. Von der Sorte könnten wir mehr brauchen.“ Das beschreibt das kleine neunjährige Mädchen ziemlich gut – man kann es aber durchaus auch als Seitenhieb auf die in den vergangenen Jahren unheimlich ausbuchstabierfreudige Film- und Serienlandschaft mit all ihren Hintergrundgeschichten und vermeintlich komplexen Plots verstehen. Zumal Cáit in einer späteren Szene noch erklärt wird, dass „viele Leute die Chance verpassen, nichts zu sagen, und viel dabei verloren haben“.
Das Debüt von Colm Bairéad wirkt wie ein totaler Gegenentwurf zum Status quo: Die Handlung des ruhig und zurückhaltend erzählten Coming-of-Age-Dramas ist schlicht, geradeaus, sehr fokussiert und gesprochen wird generell nicht allzu viel. Dennoch wurde die irische Produktion auf zahlreichen Festivals zum Kritiker- UND Publikumsliebling, avancierte darüber hinaus in Wales und England zum unwahrscheinlichen Kassenhit. Der Erfolg ist absolut verdient: „The Quiet Girl“ entwickelt gerade durch seine Zurückhaltung echte Größe, macht mit seiner so unaufdringlichen wie bildstarken Regie und einer grandiosen Hauptdarstellerin eine an sich nicht unbedingt originelle Geschichte zum nicht zu verpassenden Kinoereignis!
Brillante Performance: Cáit (Catherine Clinch) braucht nicht viele Worte, um das Publikum an ihrer Gefühlswelt teilhaben zu lassen!
Cáits Mama (Kate Nic Chonaonaigh) ist mal wieder schwanger. Nicht unproblematisch, da der Vater (Michael Patric) die Familienfarm nicht nur schlecht bewirtschaftet, sondern darüber hinaus auch noch die letzte Milchkuh im Pub verzockt. Die Mutter ist derart überfordert mit der Situation, dass sie schon mal vergisst, die Pausenbrote für ihre vier Kinder vorzubereiten. Doch da kommt ein Brief von der Cousine der Mutter, die ihr anbietet, dass die zum Ausreißen neigende, schweigsame Cáit die Sommerferien doch bei ihr verbringen könnte.
Also fährt der mürrische Vater Cáit zur Kuhfarm des kinderlosen Ehepaars Cinnsealach, das es zu einigem Wohlstand gebracht hat. Während Eibhlín (Carrie Crowley) das Kind mit offenen Armen empfängt und sich sogleich liebevoll um sie kümmert, bleibt Seán (Andrew Bennett) zunächst auf Distanz, was sich aber nach und nach ändert. Allmählich wird der Bauer zu einer Art Vater-Ersatz...
„The Quiet Girl“ basiert auf der 2010 zunächst im New Yorker veröffentlichten Kurzgeschichte „Foster“ von Claire Keegan, die von der Zeitschrift zur besten Kurzgeschichte des Jahres gekürt und noch im selben Jahr in einer erweiterten Version als Novelle erschien (bei uns unter dem Titel „Das dritte Licht“ bei Amazon erhältlich*). Regisseur Colm Bairéad war von der Geschichte fasziniert und mochte vor allem ihre Einfachheit. Bei seiner Verfilmung hält er sich deshalb auch recht eng an die Vorlage. Bairéad taucht wie Keegan tief in die Gefühlswelt von Cáit ein, übernimmt aber nicht die Ich-Perspektive der Novelle, sondern nährt sich dem Mädchen über seine bedächtige Inszenierung.
Das enge 1.37:1-Bildformat sowie die warmen, leicht ausgewaschenen Farben lassen die oft von spätsommerlichem Licht durchfluteten, äußerst ästhetischen Bilder fast wie alte Heimvideo-Aufnahmen wirken. Zu einem nahezu körperlich spürbaren Erlebnis wird der Film durch meist einen Tick länger als nötig ausgespielte, dezent betonte Momente, kleine unspektakulär-spektakuläre Highlights, die mit nur wenig oder auch gar keinen Worten viel erzählen: Die kurze Irritation beim Einsteigen ins wahrscheinlich erstmals warme Badewasser. Wenn das verunsicherte Mädchen von Eibhlín mit dem Schwamm gewaschen wird oder von ihr die langen Haare gekämmt bekommt, lassen selbst solche beiläufigen Beobachtungen erahnen, wie sehr Cáit bislang vernachlässigt wurde.
Auch die Beziehung von Cáit zu ihrem Ersatz-Vater Seán (Andrew Bennett) braucht keine großen Gesten, um tief zu berühren!
Andere Aspekte werden ähnlich gehandhabt: Natürlich rechnet man damit, dass der verschlossene, brummige Seán irgendwann auftauen wird. Aber auch hier ist ebenso Zurückhaltung die Maxime: Der Mann legt ihr, bevor er zur Arbeit geht, plötzlich einen kleinen Keks auf den Küchentisch. Eine Wende in der Beziehung der beiden, still, nahezu beiläufig und gleichzeitig ein unglaublich süßer Augenblick. Der Beginn einer Vater-Tochter-Beziehung, bei der zarte Kritik an der Institution Familie mitschwingt, denn die Verbindung zwischen Cáit und Seán wirkt nach einer Weile weitaus organischer als die zu ihrem leiblichen Vater.
Obwohl auch bei ihren Kurzeit-Ersatzeltern nicht alles in Butter ist, die beiden ein tragisches Geheimnis haben, von dem Cáit über eine Nachbarin erfährt, ist „The Quiet Girl“ nicht interessiert am großen Drama. Die Probleme der Erwachsenen stehen deutlich im Hintergrund. Und selbst eine potentielle Spannungssequenz gegen Ende am Brunnen des Hauses, die ein schwächerer Film mit Sicherheit (aus-)genutzt hätte, wird von einem gezielten Schnitt abgewürgt. Der Fokus liegt während der gesamten schlanken 90 Minuten Nettolaufzeit ganz auf der von Debütantin Catherine Clinch so bravourös gespielten Cáit. Auf der Gefühlswelt des schweigsamen kleinen Mädchens mit dem beinah porzellanen Gesicht, das soviel mit ihren Augen redet, doch immer ein klein wenig rätselhaft bleibt. Es ist ihr Film, es ist sie, die man nicht mehr vergessen wird.
Fazit: Kleines Mädchen ganz groß. Das Regie-Debüt von Colm Bairéad taucht tief ein in die Gefühlswelt der kleinen Cáit, die die Sommerferien bei einer Verwandten der Mutter verbringt und in diesen Wochen regelrecht aufblüht. Der ruhige und sehr zurückhaltend erzählte Film ist schlicht, geradeaus, sehr fokussiert und erzählt deutlich mehr über seine wunderbaren Bilder als über Dialoge.