Der heißerwartete Nachfolger von "Your Name." und "Weathering With You"
Von Björn BecherDas Verarbeiten nationaler Traumata hat eine gewisse Tradition im japanischen Unterhaltungskino. Allen voran ist hier der Monster-Klassiker „Godzilla“ zu nennen, der eben auch als Allegorie auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verstanden werden kann. In dieser Reihe steht nun auch Makoto Shinkais neuer Anime-Blockbuster „Suzume“. Schon früh findet hier Fukushima auf einem Auto-Navigationsgerät das erste Mal Erwähnung. Konsequent für diese Geschichte über das Aufsuchen verlassener Orte und das Verhindern weiterer Katastrophen spielt dann auch das Finale am Schauplatz der größten japanischen Tragödie der Neuzeit.
Bis wir diesen Punkt erreichen, hat Makoto Shinkai aber schon längst ein weiteres Mal unter Beweis gestellt, warum er spätestens seit dem zum erfolgreichsten Anime aller Zeiten avancierten „Your Name.“ als legitimer Nachfolger des legendären Hayao Miyazaki („Chihiros Reise ins Zauberland“) gilt. Einmal mehr entfesselt der so poetisch mit Licht, Schatten und Farben spielende Ausnahmekünstler einen prächtigen Bilderreigen. Ganz mithalten kann „Suzume“ aufgrund eines doch recht konventionellen Road-Movie-Tourismusfilm-Mittelteils zwar nicht mit dem Meisterwerk „Your Name.“, aber gerade im Finale zeigt er dann wieder, wie hervorragend er es versteht, große Gefühle und visuelle Bildpracht miteinander zu verbinden.
Eine junge Schülerin und ein Holzstuhl müssen die Welt vor neuen Katastrophen bewahren.
Auf dem Weg zur Schule begegnet Suzume (Stimme im Original: Nanoka Hara) einem Fremden. Souta (Hokuto Matsumura) ist auf der Suche nach Ruinen, die sich offenbar in den nahegelegenen Bergen befinden. Fasziniert von dem sehr gutaussehenden jungen Mann, stellt die Teenagerin ihm nach und stößt dabei auf eine mysteriöse Tür, die sie in eine aus ihren Träumen seltsam vertraute Welt blicken lässt. Doch nun, wo sie geöffnet wurde, droht ein schweres Unheil über unsere Welt hereinzubrechen. Erst in letzter Sekunde können Suzume und Souta das Portal verschließen und so ein potenziell verheerendes Erdbeben abwenden. Doch damit ist die Gefahr nur kurzzeitig gebannt.
Denn Suzume hat auch noch die versteinerte Gotteskatze Daijin befreit, die nun nach Norden zieht, offenbar um weitere Türen zu öffnen. Souta muss sie stoppen, doch er wurde von Daijin in einen dreibeinigen Kinderholzstuhl verwandelt. Also liegt es vor allem an Suzume, an die weiteren verlassenen Orte zu gelangen und auch dort die Türen rechtzeitig wieder zu schließen. Mit dem humpelnden Stuhl-Souta an ihrer Seite, nimmt sie von zu Hause Reißaus und setzt der flüchtigen Katze nach. Während ihre Tante Tamaki (Eri Fukatsu) sich größte Sorgen macht, beginnt für das Waisenmädchen ein Abenteuer, das sie zugleich auch zur Auseinandersetzung mit ihrem persönlich größten Verlust zwingt…
Schon Suzumes den Film einleitender Traum löst direkt ein Versprechen ein, welches man sich von jedem neuen Film von Makoto Shinkai erwartet: überwältigende Bilder! Die Auftaktszenen sind dabei nicht nur ein visueller Augenschmaus, sondern machen mit der Darstellung eines Himmels, der von Sonnenlicht und funkelnden Sternen gleichzeitig erhellt wird, auch verdammt neugierig! Es ist ein wunderbarer Vorgeschmack auf die atemberaubenden Dinge, die hier in den nächsten zwei Stunden noch folgen sollen, vor allem aber auf das einmal mehr großartige Spiel mit Licht und Farben.
Wie schon in seinen früheren Filmen nutzt Shinkai speziell auch Musik, um die Geschichte dynamisch voranzutreiben oder Gefühle zu verstärken. Einmal mehr arbeitete er dabei mit der J-Rock-Band Radwimps zusammen, die für ihre Arbeiten an „Your Name.“ und „Weathering With You“ bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Dabei werden auch in den Liedtexten Beschreibungen von Emotionen oder Situationen vermittelt, weshalb es sehr wünschenswert wäre, dass die Songs auch bei der regulären deutschen Veröffentlichung wie bei der Premiere auf der Berlinale 2023 untertitelt werden.
Warum will die sprechende Katze Daijin immer weitere Türen öffnen?
Wobei gerade die in „Your Name.“ noch so berührend-traurige Romanze eine der wenigen Schwächen von „Suzume“ ist. Dass die Schülerin schon beim ersten Anblick einfach nur hin und weg ist von dem älteren Lehramtstudenten Souta, muss man einfach so hinnehmen. Mit seiner Verwandlung in einen Stuhl erledigt sich das Thema zum Glück weitestgehend und wird anschließend nur noch hier und da mal für einen Gag genutzt: „Kann man einen Stuhl küssen? Und wohin?“
Der emotionale Kern der Geschichte ist stattdessen Suzumes traumatischer Verlust der eigenen Mutter im Alter von vier Jahren. Der Regisseur scheint dabei einmal mehr ausgesprochen stark von Haruki Murakamis Roman-Meisterwerk „Kafka am Strand“, das er ja auch schon bei „Your Name.“ als wichtige Inspiration nannte, beeinflusst zu sein. Dass auch hier ein Eingangsstein und eine Art Zwischenreich zur Welt der Toten eine wichtige Rolle spielen, ist da sicher kein Zufall.
Nur im Mittelteil hängt „Suzume“ bisweilen etwas durch. Dieser erweist sich als Road-Trip einmal quer durch Japan, bei dem die Schülerin und ihr Stuhl an den verschiedenen Orten immer wieder hilfsbereiten Menschen begegnen, dann gerade noch rechtzeitig die Tür schließen, bevor das Spiel dann an der nächsten Station wieder von vorne beginnt. Dazu bleiben die Zufallsbegegnungen am Wegesrand recht blasse Figuren. Sie unterstreichen mit ihrer kaum von Fragen begleiteten, fast bedingungslosen Hilfsbereitschaft zwar den durch und durch optimistischen Ton des Animes, entwickeln aber keine eigene Persönlichkeit, sondern bleiben eher ein Hintergrundrauschen.
Am Ende taugen all diese Figuren maximal für die eine oder andere komische Situation rund um den sprechenden und sich bewegenden Stuhl. Zudem wirkt diese Phase des Films ein wenig wie ein Best-Of der Must-To-Dos für jeden Japan-Urlaub: Übernachtung in einem traditionellen Ryokan? Check! Besuch einer Karaoke-Bar? Check! Fahrt mit einem Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug? Check! Es wirkt fast, als hätte neben einer nicht zum ersten Mal in einem Film von Shinkai prominent vorkommenden, bekannten amerikanischen Fast-Food-Kette auch der lokale Tourismusverband für eine Werbeplatzierung bezahlt.
Eine Tür ist endlich geschlossen – und schon geht es direkt zur nächsten...
Rasant und unterhaltsam bleibt „Suzume“ aber auch in diesen Momenten. Und Shinkai erzählt im Vorbeigehen auch ungemein viel: Immer wieder blicken die Menschen in diesem Film auf die rot aufleuchtende, das nächste Erdbeben ankündigende Warn-App auf ihrem Handy – der Ausnahmezustand als Selbstverständlichkeit. Allgemein spielt das Mobiltelefon eine wichtige Rolle. Vor allem über Social Media verfolgt Suzume die flüchtige Katze, die so knuffig aussieht, dass sie überall für Schnappschüsse herhalten muss und bald ihren eigenen Hashtag hat. Und wenn ihr dreibeiniger Stuhl selbst Daijin hinterherrennt, dann werden natürlich auch geschwind die Handys für virale Videos gezückt.
Gerade diese Verfolgungsjagden sind wunderbar rasant und so gekonnt over-the-top, wie es nur im Animationsfilm möglich ist. Da springen Katze und/oder Stuhl so meilenweit durch die Lüfte, dass sie quasi schon fliegen. Und Suzume gleitet auf dem gigantischen Wurm entlang, der sich immer wieder durch die offenen Türen seinen Weg nach draußen bahnen will, um die Erde zu erschüttern. Shinaki spielt hier mit den Elementen des großen Katastrophenblockbusters. Er macht sich die Imposanz des Genres zu eigen, hält es aber auch auf Distanz, indem er immer wieder die ihrem Tagesgeschäft nachgehenden Menschen zeigt, die gar nicht mitbekommen, welches potenzielle Unheil sich über ihren Köpfen gerade zusammenbraut.
Fazit: Schon in „Your Name.“ und „Weathering With You“ spielten Naturkatastrophen eine wichtige Rolle. In seinem neuen Film „Suzume“ reist die Titelheldin nun gleich reihenweise verlassene Schauplätze früherer Unglücke ab, um dort neues Unheil zu verhindern. Daraus entwickelt der Anime-Künstler einen so bewegenden wie bildgewaltigen und trotz des ernsten Hintergrunds unglaublich optimistischen und lustigen Anime-Blockbuster.
Wir haben „Suzume“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.