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    O Brother, Where Art Thou?
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    O Brother, Where Art Thou?
    Von Christian Horn

    Neben Regisseuren wie David Lynch (Blue Velvet), Lars von Trier („Europa“) oder Peter Greenaway (Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber) zählen auch Joel und Ethan Coen zu den zentralen Regisseuren des postmodernen Kinos der Achtzigerjahre. In der Zeit, als Theorien zur Postmoderne sich in großen Kinofilmen wie Blade Runner oder Paris, Texas niederschlugen, entwickelten die Coens ihren eigenen Stil, der sich von Film zu Film unter neuen Vorzeichen offenbarte - immer schwankend zwischen Satire und Hommage, Kopie und Variation. Barton Fink erzählt etwa nicht nur eine Geschichte, sondern gleichzeitig auch von der Entstehung derselben, parodiert das Hollywood der Vierzigerjahre, lehnt sich an reale Figuren der Studioära an und bedient sich der unterschiedlichsten Vorbilder, darunter Franz Kafka, Raymond Chandler und Shining. Dabei zitieren die Coens in ihren Filmen nicht so offensichtlich wie etwa Quentin Tarantino (Inglorious Basterds), sondern chiffrieren ihr Quellmaterial teilweise bis zur Unkenntlichkeit – bis zu dem Punkt, an dem das mehrfach codierte Material „Coen County“ (wie der Filmkritiker Georg Seeßlen es nennt) vollends einverleibt wird. Wenn die Komödie „O Brother, Where Art Thou?“ nun immer wieder auf die Anlehnung an Homers „Odyssee“ reduziert wird, greift das entschieden zu kurz, denn das klassische Epos bestimmt als luzides Grundgerüst allenfalls eine von vielen Stoßrichtung dieses großartigen Films.

    „O Brother, Where Art Thou?“ beginnt mit einem großen Kinobild: Eine Sträflingskolonne – im klassischen Streifen-Look gekleidet, bewacht von sonnenbebrillten, kernigen Polizisten – schlägt im Takt und mit Spitzhacken auf Steine am Wegrand ein. Weite Getreidefelder im Hintergrund, die Sonne, ausgewaschene, blasse Farben und ein Working song, der die Sträflinge bei Laune hält – wir befinden uns im Süden Amerikas zur Zeit der großen Depression. Es folgt der bewusst undramatisch inszenierte Ausbruch dreier Sträflinge, der an Jim Jarmuschs Down By Law gemahnt: Ulysses McGill (George Clooney, Michael Clayton), Delmar (Tim Blake Nelson) und Pete (John Turturro, Miller‘s Crossing) wagen, von schweren Fesseln aneinander gekettet und von ersterem angeführt, den Fluchtversuch, um an einen Goldschatz zu gelangen, den Ulysses irgendwo versteckt haben will. Ihre Reise durch den ländlichen Süden Amerikas entwickelt sich in der Tat zu einer Odyssee, in deren Verlauf allerhand Absurdes, Groteskes und Komisches passiert...

    Man kann sich „O Brother, Where Art Thou?“ über die Landschaft, in der er spielt, annähern. In den Filmen der Coens wird das - das räumlich wie das zeitliche - Setting nämlich immer zu einem wesentlichen Protagonisten: die Film Noir-Bar in Blood Simple, das organische Hotel in „Barton Fink“, der verrückte Bürokomplex in Hudsucker Proxy. Selbiges gilt für die Coen-Filme, die einem bestimmten amerikanischen Bundesstaat zugeordnet sind: Das Arizona aus Arizona Junior, der Mittlere Westen aus Fargo, das Texas aus No Country For Old Men sind für die jeweiligen Erzählungen über alle Maßen konstitutiv – und so verhält es sich auch mit dem Mississippi aus „O Brother, Where Art Thou?“. Alle Schauplätze des Films, viele Figuren und ihre Accessoires (wie die Haarpomade Ulysses'), die Musik, die Fahrzeuge – das alles ist unverkennbar einer Art Klischeevorstellung oder besser: einem kollektiven Bilder-Vorrat vom Süden und den Dreißigerjahren Amerikas entnommen. Schon das erwähnte erste Bild ist ein aus diesem Fundus schöpfendes Zitat ohne bestimmte Vorlage: Streifenanzug-tragende Sträflinge, die am Straßenrand mit Hacken auf Steine einschlagen, auf ihren Lippen ein Arbeitersong. Das ist ein Szenario, das wohl jeder kennt, ob nun von „Lucky Luke“, einem alten Gangsterfilm oder aus einer Zigarettenwerbung – jedenfalls nicht nur aus „O Brother, Where Art Thou?“. Derlei Bilder gibt es in diesem Film noch viele. Allein schon die ästhetische Entscheidung, die Fotografie jeglicher Grüntöne zu berauben, zielt in diese Richtung. So wird „O Brother, Where Art Thou?“ zu einer Odyssee durch den Süden Amerikas, zu einem bald ironischen, bald liebevollen Kommentar der Coen-Brüder zu der Gegend um den Mississippi herum.

    Wirklich virtuos wird der auf den ersten Blick recht unscheinbare Film aber erst dadurch, dass er diese Landschaft zum Anlass für einen schrankenlosen, aber stets gekonnten Streifzug durch die Kultur- und Filmgeschichte dieser Gegend nimmt. Ob die Protagonisten nun auf einen fahrenden Güterwaggon aufspringen wollen, der eine Seitentür geöffnet hat (noch so eines dieser Kinobilder), ein Floß benutzen, auf dem eben noch Huckleberry Finn oder Tom Sawyer gesessen haben könnten, der Entstehung des Blues beiwohnen oder auf den Ku-Klux-Klan treffen. Ob sie wie Bonnie And Clyde im geklauten Auto durch die Landschaft fahren, auf der Farm eines Verwandten Unterschlupf finden oder auf „Babyface“ Nelson treffen: Fast jede der Situationen, in die die Protagonisten geraten, ist eine ganz und gar typische. Joel und Ethan Coen schöpfen also im großen Stil aus der (Pop-)Kultur- und Filmgeschichte, wobei der Fokus auf dem Bundesstaat Mississippi liegt. Bezeichnend hierfür ist auch der großartige Soundtrack des Films, der die amerikanische, stark im Süden verankerte Musik-Geschichte der Dreißigerjahre durchexerziert und bereits in der Drehbuchphase feststand.

    Durchmischt und endgültig ins Irreale entrückt wird „O Brother, Where Art Thou?“ dann durch den immer wieder aufflackernden Bezug zu Homers „Odyssee“ (der Seher, die Sirenen, die Namensgebung) und den Einsatz klassischer Märchenmotive wie dem Pakt mit dem Teufel oder der Verwandlung eines Menschen in einen Frosch – auch das ein Einblick in die Art und Weise, mit der die Coens sich bestimmte Motive und Mythen einverleiben. Dass hier auch ein Verweis auf die Bibel nicht ausbleibt, ist nur konsequent.

    Das Faszinierende an „O Brother, Where Art Thou?“ ist schließlich die große inszenatorische Meisterschaft, mit der alle diese Zutaten zusammengehen. Der gewissermaßen tatsächlich epische Film ist nicht nur doppelt, sondern gleich mehrfach codiert: Erscheint „O Brother, Where Art Thou?“ auf den ersten Blick wie ein einziges Geplänkel, wird er bei genauerem Hinsehen zu einem beinahe unerschöpflichen Film, der permanent mehrere Dinge auf einmal verhandelt. Nun erreicht „O Brother, Where Art Thou?“ zwar nicht ganz die flirrende Vieldeutigkeit von „Barton Fink“ (dazu fehlt ihm womöglich das irritierende Eintauchen in die Psyche der Hauptfigur), ist den meisten Filmen seiner Zeit aber dennoch meilenweit voraus: Denn in den besseren Filmen der Gebrüder Coen – und zu denen zählt der hier besprochene gewiss – hält das gewaltige Ungetüm Kulturgeschichte kurz inne und präsentiert sich in so vielen Querbezügen, Referenzen und Verschachtelungen, dass man damit eine ganze Handvoll guter Filme füllen könnte. Am Ende steht dennoch ein fertiger, sogar kommerziell erfolgreicher und allseits beliebter Kino- und nicht etwa ein abseitiger Essay- oder Experimentalfilm. Und das ist nun wirklich eine reife Leistung.

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