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    Boy Kills World
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Boy Kills World

    Der (Beinahe-)Deadpool von Panem

    Von Sidney Schering

    Aus einer Schneeflocke wurde eine Lawine: Zwar wurde „Schneeflöckchen“ abseits des Filmfestival-Zirkels wenig beachtet, allerdings hatte der Mix aus Dystopie, Thriller und Meta-Komödie bemerkenswerte Folgen für den Kreativstandort Deutschland. Die 2017 nach langer Produktion fertiggestellte Attacke an irren Einfällen entstand, weil sich die Verantwortlichen künstlerisch austoben und ihr Können beweisen wollten. Das ist zweifelsohne gelungen: Seither ist die „Schneeflöckchen“-Gang allerorten aufzufinden – Drehbuchautor Arend Remmers etwa verfasste unter anderem die Hitserien „Sløborn“ und „Oderbruch“.

    Nun folgt für ihn und „Schneeflöckchen“-Produzent Reza Brojerdi der Sprung nach Hollywood: Gemeinsam mit Regie-Newcomer Moritz Mohr entwickelten sie „Boy Kills World“, eine weitere wilde Mischung aus Einflüssen – von Hongkong-Action über Prügelspiele bis zu postapokalyptischen Thrillern. Ein Pitchvideo begeisterte „Spider-Man“- und „Tanz der Teufel“-Regisseur Sam Raimi, der daraufhin als Produzent das Projekt unterstützte. Jetzt kämpft sich der Stoff, mit Skript-Input von Videospielautor Tyler Burton Smith, ins Kino. Und dort lässt sich „Boy Kills World“ glatt als Kampfansage gen „Deadpool & Wolverine“ verstehen!

    Ein neuer Rächer ist da: Er heißt Boy! Raimi Productions
    Ein neuer Rächer ist da: Er heißt Boy!

    Eine düstere, nahe Zukunft: Seit eine Revolution zurückgeschlagen wurde, herrscht die ruchlose Diktatorin Hilda van der Koy (Famke Janssen) mit drakonischer Hand. Die Drecksarbeit lässt sie jedoch vom Rest ihrer Familie erledigen. So agiert ihr Schwiegersohn Glen (Sharlto Copley) trotz kurzer Zündschnur als wandelndes Propagandaministerium, dessen Gattin Melanie (Michelle Dockery) präsentiert dagegen einmal im Jahr „The Culling“: Eine landesweit ausgestrahlte Sendung, in der live Leute abgeschlachtet werden.

    Es sind aber nicht solche Herzlosigkeiten, die Boy (Bill Skarsgård) gegen die garstige Familie aufgebracht haben. Er hat zutiefst persönliche Motive: Hilda ist der Grund, dass er gehörlos ist und seine Stimme sowie seine Schwester verloren hat. Nach jahrzehntelanger Ausbildung durch einen weisen Schamanen (Yayan Ruhian) ist nun der Moment gekommen, Vergeltung zu üben. Jedoch hat der Rächer nicht mit der Schlagkraft von Hildas Armee gerechnet, zu der die taffe und agile June 27 (Jessica Rothe) zählt...

    Metzeln mit Voice-Over

    Eine der raren, innigen Erinnerungen, die Boy an seine Glücksjahre hat, ist das gemeinsame Daddeln mit seiner Schwester. Auch wenn Boy nicht glaubt, dass sein ganzes Leben bloß ein Videospiel ist, filtert er es durch dieses Medium, das ihm Freude bereitete. Daher kommentiert Boy in Gedanken alles, was er erlebt – und das mit der kratzigen, tiefen Stimme eines klischeehaften Prügelspielansagers. Die steuert in der englischsprachigen Originalfassung des Films der berühmte Synchronsprecher H. Jon Benjamin („Bob's Burgers“, „Archer“) bei. Dessen aufgesetzt-raues Grummeln ist aber arg gewöhnungsbedürftig. Es wäre daher womöglich cleverer gewesen, jemanden zu besetzen, der seine Stimme glaubhafter verstellt.

    Andererseits gewinnt die überanstrengte Art, mit der Benjamin die inneren Monologe spricht, über die Dauer des Geschehens an Witz. Schließlich wird zunehmend deutlicher, dass Boy nicht der kompetente Racheengel ist, für den er sich hält – da passt eine hörbar verstellte Stimme dann doch ins Konzept. Zugleich lässt diese Ansagerstimme „Boy Kills World“ näher an „Deadpool“ rücken. Denn die mit Querverweisen bespickten, brutale Ereignisse absurd locker begleitenden Gedanken erinnern mit steigender Pointen-Schlagzahl an Ryan Reynolds' Paraderolle.

    Raimi Productions
    "The Raid"-Star Yayan Ruhian hat als Mentor des Rächers sichtlich Spaß.

    Boy spart sich jedoch die bei „Deadpool“ unvermeidlichen, spöttischen Kommentare, dass wir das alles gar nicht ernst nehmen sollen, weil die Story ja völlig abgedroschen sein. Damit gehen zwar ein paar Gag-Steilvorlagen flöten, dafür fällt es umso leichter, mit Boy mitzufiebern. Denn so verquer sein Verständnis der Welt ist, es bleibt stets unmissverständlich klar, wie wichtig ihm seine Mission ist. Diese Fallhöhe befeuert im Umkehrschluss den Gagfaktor:

    Wenn Boy etwa selber über das Gelingen eines Plans staunt oder Probleme hat, die Lippen seines Mitstreiters Benny (Isaiah Mustafa) zu lesen, weshalb auch wir nur Kauderwelsch hören, reiben sich die Umstände dermaßen mit Boys Erwartungen, dass dicke Comedyfunken sprühen. Ob letztlich Deadpools blasierte, tief in Meta-Humor verankerte Perspektive oder doch Boys naiv-ironische Art das persönliche Komikzentrum trifft, ist aber selbstredend eine individuelle Frage.

    Brutal bis zum Anschlag

    Eine eindeutigere Sache ist, dass „Boy Kills World“ in Sachen Härte mit den bisherigen „Deadpool“-Filmen erbarmungslos den Boden aufwischt: In den Kampfsequenzen werden schon von Beginn an keinerlei Gefangenen gemacht, doch Mohr und der für die Gestaltung der Kampfsequenzen verantwortliche Dawid Szatarski („Guns Akimbo“) drehen die Gewaltschraube konsequent noch weiter nach oben. Und so wird aus der agilen Knochenbrecher-Action des Auftakts erst temporeiche Käsereibe-Folter, die Raimis Produktion „Evil Dead Rise“ überflügelt, und letztlich brachial-stylischer Kampf-Splatter, der sich in Sadismus suhlt.

    Darüber, ob sich dies mit der zwischendurch aufblitzenden Kritik an Vergeltungsnarrativen beißt oder der Story erst recht eine schmerzlich-dramatische Dimension verleiht, lässt sich streiten. Als brachiale Unterhaltung zündet „Boy Kills World“ aber ordentlich. Und das, obwohl die von Peter Matjasko („The Magic Flute“) geführte Kamera zwischendrin über's Ziel hinausschießt und derart rasant herumwirbelt, dass man erraten muss, was genau da vorgeht. Solche Passagen versetzen uns immerhin mitten in Boys von Zorn angetriebenen, eilig ratternden Verstand – wenn dieser mentale Autopilot ausgeschaltet ist, geht’s zum Ausgleich extra nah ran an die glitschigen Details der Filmgewalt.

    Begeistert als Szenendieb: Brett Gelman aus Raimi Productions
    Begeistert als Szenendieb: Brett Gelman aus "Stranger Things".

    Als mal verdatterter, mal grantiger Held nahezu ohne Reue macht „ES“-Horror-Clown Bill Skarsgård zudem eine gute Figur, ebenso wie „District 9“-Star Sharlto Copley einmal mehr ansteckende Freude daran hat, dick aufzutragen. Copley wird dennoch von „Stranger Things“-Darsteller Brett Gelman überschattet, der als pathetischer, unfähiger und genervter Redenschreiber genauso gut in einen „Deadpool“-Film passen würde. Schade ist derweil, dass die aus „Downton Abbey“ bekannte Michelle Dockery ihren trockenen Humor nur sehr beiläufig unter Beweis stellen darf und auch „Happy Deathday“-Hauptdarstellerin Jessica Rothe nahezu verschenkt ist:

    Als verbissen-agile Schlägerin hat sie eigentlich genau verstanden, auf welcher Wellenlänge dieser Film operiert. Allerdings wird Rothe streckenweise unter einem klobigen Helm versteckt, wodurch sie zur nichtssagenden Handlangerin degradiert wird. Zudem wirkt es so, als hätte man es ausgewürfelt statt auf eine innere Logik abgeklopft, wann ihre Rolle die Kopfbedeckung abnimmt oder aufsetzt. Dass Mohr und Co. sehr wohl wissen, dass man überqualifizierte Personen nicht verschenken sollte, beweisen sie indes mit „The Raid“-Star Yayan Ruhian: Als kauziger Schamane macht er zwar wenig, doch wenn er austeilt, dann mächtig!

    Fazit: Ein alles ironisch kommentierender Held prügelt sich quer durch unaufdringliche Popkultur-Referenzen und vergießt dabei literweise Blut: „Boy Kills World“ mischt seine zahlreichen Versatzstücke zu einer boshaft-vergnüglichen Gewaltsause. Mit dieser muss „Deadpool & Wolverine“ erst einmal mithalten!

    Wir haben „Boy Kills World“ auf den Fantasy Filmfest Nights 2024 gesehen, wo er seine Deutschlandpremiere feierte.

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