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    Argentinien, 1985
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Argentinien, 1985

    Ein Volltreffer für Amazon Prime Video

    Von Christoph Petersen

    Ganz egal, ob es dabei nun um Kriegsverbrechen oder Umweltfrevel geht – Gerichtsfilme über reale Prozesse laufen (fast) immer nach demselben Schema ab. Auf der einen Seite wühlen sich zu wenige Kämpfer*innen für die gerechte Sache unnachgiebig durch praktisch nicht zu bewältigende Aktenmassen, während die Anwält*innen der anderen Partei gleich im Dutzend aufmarschieren, um in ihren Maßanzügen vor allem möglichst arrogant dreinzuschauen. Man kennt das alles zur Genüge – und trotzdem gibt es kaum ein Genre, das selbst ohne großartige Innovationen dermaßen befriedigende Ergebnisse erzielt, einfach nur weil eine Geschichte handwerklich sauber erzählt wird.

    Das Amazon-Original „Argentina, 1985“, das es zu Recht in den Wettbewerb des Filmfestivals in Venedig geschafft hat, ist ein besonders gutes Beispiel dafür. Regisseur Santiago Mitre („Das Komplott - Verrat auf höchster Ebene“) arbeitet in seinem Justiz-Drama den wohl bedeutendsten Prozess der argentinischen Geschichte einfach „nur“ sauber auf – gut recherchiert, mitreißend erzählt, stark gespielt und mit erstaunlich viel Humor aufgelockert. Das Ergebnis ist spannend, berührend, schmerzhaft – und am Ende vor allem unglaublich befriedigend. Da muss selbst der Autor dieser Zeilen zugeben: Es braucht nicht immer etwas Innovatives – manchmal reicht es auch völlig aus, die bekannten Muster einfach nur mit herausragendem Handwerk zu befüllen.

    Julio Strassera (Ricardo Darín) muss wohl oder übel über sich hinauswachsen, um an der ihm und seinem Team gestellten Aufgabe nicht zu zerbrechen.

    1983 endet die siebenjährige Militärdiktatur in Argentinien. In diesen dunklen Jahren wurden Tausende Menschen ohne ordentliches Gerichtsverfahren gekidnappt, gefoltert und getötet. Viele sind gar völlig spurlos verschwunden. Trotzdem tun sich die Militärgerichte auch Monate nach der Machtübergabe an die Zivilregierung noch schwer damit, die obersten Militärs zur Verantwortung zu ziehen. Stattdessen heißt es einfach nur, dass die Verbrechen von auf eigene Rechnung handelnden Untergebenen begangenen worden seien – und sowieso hätten die Opfer es ja eigentlich auch gar nicht anders verdient.

    Obwohl die Entscheidung eine gewaltige gesellschaftliche Sprengkraft besitzt, verlieren die zivilen Gerichte irgendwann die Geduld – und beauftragen den Chefankläger Julio Strassera (Ricardo Darín) damit, die obersten Militärs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu bringen. Es bleiben nur wenige Monate, um Tausende von Fällen aufzuarbeiten und mit noch mehr potenziellen Zeug*innen zu sprechen. Doch alle etablierten Juristen sind entweder tot, eingeschüchtert oder überzeugte Faschisten – weshalb Strassera für das wichtigste Verfahren in der Geschichte der Nation ein Team von Junganwält*innen, die zwar keine Erfahrung haben, aber dafür unbelastet und hochmotiviert an die Sache herangehen, um sich versammelt…

    Das kennt man doch! Na und?

    Alle warten gespannt auf das Urteil. Als das Telefon klingelt, lauschen die Mitarbeiter*innen gebannt durch die geöffnete Tür. Aber als der Chef um die Ecke lugt, tun alle sofort wieder so, als seien sie mit irgendwas schwer beschäftigt. Ein Gag, den man genau so schon x-mal gesehen hat – und das ist längst nicht die einzige „altbekannte“ Szene in „Argentina, 1985“. Das gilt neben dem Humor nämlich ebenso für die Spannungsmomente, wenn etwa Strasseras Stellvertreter Luis Moreno Ocampo (Peter Lanzani) zunehmend paranoid nach möglichen Bomben Ausschau hält oder ein nächtlicher Verfolger doch nur an einem der Protagonisten vorbeifährt, statt wie befürchtet direkt das Feuer zu eröffnen.

    Es wäre also ein Leichtes, den Film als „komplett durchschnittlich“ abzuhaken. Ganz nach dem Motto: „Nichts Neues, aber guckbar.“ Doch damit täte man „Argentina, 1985“ ziemlich Unrecht! Manchmal ist das Ganze eben doch mehr als die Summe seiner Einzelteile – vor allem dann, wenn die Einzelteile allesamt eine so hohe Qualität haben wie in diesem Fall: Ricardo Darín („In ihren Augen“) verkörpert zunächst glaubhaft die Überforderung des Anklägers – nur um dann genauso über sich hinauszuwachsen wie seine Figur: Der größte argentinische Schauspiel-Star seiner Generation entwickelt in seinen Reden speziell auf der Zielgeraden eine solche Gravitas, dass man auch als Kinozuschauer*in an jedem seiner Worte klebt.

    Strassera wird am ersten Tag der Verhandlung plötzlich der junge Luis Moreno Ocampo (Peter Lanzani) als Stellvertreter an die Seite gestellt.

    Zudem räumen Santiago Mitre und sein Co-Autor Mariano Llinás den Geschichten ausgewählter Opfer zudem erfreulich viel Raum ein, statt im Staccato-Takt einfach nur auf die schiere Masse zu setzen (im Prozess wurde schließlich viele Wochen lang ein grausames Schicksal nach dem anderen vorgetragen). Vor allem die ausführliche Aussage einer Mutter (Laura Paredes), die ihr Baby mit gefesselten Händen und verbundenen Augen sowie unter Androhung, dass es sowieso getötet werden würde, im Fußraum eines Autos zur Welt bringen musste, lässt einen einfach nur zerstört und fassungslos zurück.

    Statt die Schreckensgeschichten in irgendeiner Form zu beschönigen, setzt Santiago Mitre auf einen mitreißenden Cast sowie sehr reichlich eingestreuten Humor. Der Inhalt des Prozesseses ist und bleibt ganz schön harter, eigentlich kaum auszuhaltender Tobak – und trotzdem ist „Argentina, 1985“ erstklassiges Unterhaltungskino, dem der schwierige Spagat gelingt, spannend, mitreißend und sogar ziemlich lustig zu sein, ohne dabei irgendetwas zu verharmlosen.

    Fazit: Ein ungemein befriedigendes Gerichts-Drama über das vermutlich schwärzeste Kapitel in der Geschichte Argentiniens. Nur ganz wenige Filme sind dermaßen gut, ohne auch nur an einer einzigen Stelle etwas Eigenes oder Neues zu wagen – damit hat sich Amazon Prime Video einen ziemlich sicheren Publikumsfavoriten geangelt…

    Wir haben „Argentina, 1985“ im Rahmen des Filmfestivals in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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