Adrenalin-Nachschub für "Free Solo"-Fans
Von Oliver KubeNach dem globalen Erfolg von „Free Solo“ (inklusive des Oscars für den Besten Dokumentarfilm) war es nur eine Frage der Zeit, bis (viele) weitere Dokus über möglichst extreme Formen des Bergsteigens in die Kinos kommen würden. „Der Alpinist“ von „Durch die Wand“-Regisseur Peter Mortimer ist eine der besten davon. „Free Solo“-Fans dürfen sich zudem freuen, dass der eloquente und sympathische Extremkletterer Alex Honnold auch hier wieder prominent zu sehen und zu hören ist.
Ein Tipp aber gleich vorweg: Wenn ihr euch im Extremkletterer-Metier noch nicht so gut auskennt, aber trotzdem Interesse daran habt, euch den Film anzusehen, dann tut euch den Gefallen und googelt nicht vorab nach dem Namen Marc-André Leclerc. Darunter würden die Spannung, Spiritualität und Emotionalität nur leiden – und das wäre wirklich schade. Steigt am besten einfach so unbeleckt wie möglich in die Materie ein, denn dann zählt „Der Alpinist“ zu den effektivsten und bewegendsten Dokus der letzten Jahre.
Marc-André Leclerc plant nicht weniger als eine Revolution des Free-Solo-Kletterns...
Als wir Marc-André Leclerc treffen, ist er 23 Jahre alt und noch ein relativ unbeschriebenes Blatt unter den Free-Solo-Kletterern, die allein und ohne Sicherung Fels- und Eiswände besteigen. Dass den Kanadier zu diesem Zeitpunkt selbst in der Szene kaum jemand kennt, liegt allerdings nicht daran, dass er es nicht draufhat. Ganz im Gegenteil: Trotz seiner jungen Jahre hat er schon einige der schwierigsten und furchteinflößendsten Berge Nordamerikas bestiegen – und das in teilweise atemberaubend kurzer Zeit.
Aber Leclerc ist ein exzentrischer Einzelgänger, fast ein Sonderling. Während die meisten seiner Kolleg*innen das Rampenlicht suchen, um Social-Media-Follower und Sponsoren anzulocken, geht es ihm allein um die Erfüllung persönlicher Träume und Ambitionen. Selbst die Zusage zu seiner Mitwirkung an dieser Doku gibt er nur zögerlich – kann er doch keine Ablenkung gebrauchen. Schließlich plant er einen Trip nach Patagonien, im Süden Argentiniens, bei dem er nicht weniger als das Soloklettern zu revolutionieren plant…
Die Bergsteiger-Legende Reinhold Messner schätzt, dass etwa die Hälfte der weltbesten Solo-Climber*innen bei der Ausübung ihres Sports ihr Leben lassen würden. Diese Quote ist wohl auch deshalb so erschreckend hoch, weil nach der Erstersteigung einer Route meist nach immer extremeren Wegen gesucht wird, um die vorangegangenen Leistungen noch zu übertreffen – ohne Sauerstoffgeräte, ohne Hilfsmittel, solo… „Es ist tragisch und mit vernünftig anmutenden Argumenten nur schwer zu verteidigen“, sagt Messner. „Aber wenn der Tod keines der möglichen Resultate des Bergsteigens wäre, dann wäre es kein Abenteuer, keine Kunstform, sondern eine Art Kindergarten.“
Die Frage nach dem Warum scheint sich Marc-André Leclerc hingegen nie gestellt zu haben. Der in den frühen Interview-Sequenzen noch sehr scheu und leicht entrückt wirkende junge Mann tut es einfach. Er steht im kanadischen Squamish am Fuße der Coast Mountains jeden Morgen auf, zieht sich an, schnappt sich eine Flasche Wasser, geht los und steigt mit bloßen Händen und leichten Schuhen fast 180 Grad steile Kalksteinwände hoch. So, als wäre es das Normalste auf der Welt, hängt er dabei schon mal mit nur zwei Fingern, ohne Steigeisen, Haken oder Seile hunderte von Metern hoch an einem mickrigen Knick im Fels – und alles nur, um von oben herunterzuschauen und sich selbst sagen zu können, dass er es geschafft hat.
"Free Solo"-Protagonist Alex Honnold ist auch in "Der Alpinist" mit von der Partie.
Mehr als zwei Jahre lang versucht Filmemacher Peter Mortimer, selbst seit seiner Jugend in Colorado ein passionierter Bergsteiger, Leclerc mit Kameras zu begleiten, nachdem er von ein paar befreundeten Insidern auf dessen enormes Talent aufmerksam gemacht wurde. Aber während sich Leclercs derselben Passion folgende Freundin Brette gerne filmen lässt, scheint sich der im Umfeld anderer Menschen unbeholfen wirkende Protagonist der Doku dabei eher unwohl zu fühlen. Selbstbewusst ist er nur am Berg.
Das Tempo und die Sicherheit, mit denen er an ihnen hochsteigt, ist atemberaubend effektiv eingefangen. Mortimers Bilder sind nah dran, ohne deshalb gleich zu sensationalisieren. Meist realisiert man als Zuschauer*in gar nicht, wie weit Leclerc vom Erdboden entfernt ist. Das Spektakuläre an seiner Performance sehen wir erst, wenn die auf Flugdrohnen befestigte oder von Brett Lowell („Valley Uprising“) mit der Hand gehaltene Kamera plötzlich richtig weit aufzieht. Dann sieht er mit einem Mal aus wie eine Ameise, die eine Mauer oder einen Baum hinaufläuft.
Kurz nachdem Leclerc – auf Drängen seiner Freundin, die über ein Jahr lang mit ihm zunächst auf einem Treppenhausabsatz, dann in einem mickrigen Zelt im Wald kampiert hat – seinen ersten Sponsorenvertrag unterschrieben hat, gibt es eine Verabredung mit den Dokumentarfilmern zu einem weiteren Dreh. Die wird von Leclerc aber einfach nicht eingehalten. Niemand weiß, wo er ist. Das Telefon, das ihm die Filmcrew gekauft hatte, wurde nie aktiviert. Allein durch die Social-Media-Posts anderer Kletterer findet das Team irgendwann heraus, dass er sich beim Eisklettern auf Baffin Island in der Arktis, in Schottland und in Südamerika herumtreibt, wo er Berge und gigantische Eisformationen besteigt, obwohl er teilweise nicht einmal deren Namen kennt.
„Warum hast du uns nicht angerufen“, fragt Mortimer, als er den schwer fassbaren Protagonisten seines Films schließlich bei dessen Mutter an die Strippe bekommt. „Weil es sich für mich dann nicht wie echte Solo-Aufstiege angefühlt hätte“, druckst Leclerc herum. „Obwohl ihr mir ja nicht helft, sondern nur filmt, wäre es längst nicht so aufregend, so schön gewesen, wenn ihr mit euren Kameras dabei gewesen wäret.“ Das ist auch der Grund, weshalb Mortimer & Co. ihn nicht bei seinem bis dato größten Abenteuer begleiten können, als er etwas versucht, was noch nie ein Mensch zuvor riskiert, geschweige denn geschafft hat: einen Winter-Soloaufstieg des berüchtigten Torre Egger in Patagonien. Wie sich an dieser Stelle in „Der Alpinist“ herausstellt, waren Leclercs Einzelgänge des letzten Jahres nämlich offenbar allesamt Vorbereitungen für diesen einen Trip.
Besonders spektakulär wird es, wenn die Kamera mal zurückzieht und den Blick auf die Abgründe öffnet...
Vielleicht aus einem Anflug schlechten Gewissens stimmt Leclerc aber zu, die ersten paar hundert Meter von einem Freund mit Camcorder dokumentieren zu lassen und danach selbst eine kleine GoPro-Kamera am Kopf zu tragen. Was folgt, ist eine der aufregendsten, dramatischsten und unverfälschtesten Real-Sequenzen, die man sich als Doku-Fan nur wünschen kann. Selbst die Worte „mitreißend“ und „involvierend“ können diese Erfahrung nur ungenügend umschreiben. Nach dem enorm unterhaltsamen Einstieg und dem aufgrund seines Abtauchens etwas frustrierenden Mittelteil lernt das Publikum Leclerc hier endlich richtig kennen.
Auch wenn es nicht allzu viele bewegte Bilder zu sehen gibt, schlottern wir – aus Angst und vor Kälte – geradezu mit, als der junge Mann in fast 3.000 Meter Höhe von einem heftigen Schneesturm überrascht wird. Wir verstehen plötzlich, was diesen unkonventionellen Freigeist bewegt. Auch ein Grund, warum die letzte Viertelstunde von „Der Alpinist“ dann wohl sämtliche Zuschauer*innen wie ein Schlag in die Magengrube treffen dürfte…
Fazit: Eine mit grandiosen Bildern sowie einem zunächst undurchsichtigen, sich dann aber dem Publikum in seiner Eigenart erschließenden Protagonisten fesselnde Bergsteiger-Doku – emotional berührend und extrem inspirierend.