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    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
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    Der radikale Twist nach 45 Minuten ändert alles

    Von Michael Meyns

    Vor vier Jahren gewann der belgische Regisseur Lukas Dhont direkt mit seinem Debütfilm „Girl“ die Cannes-Sektion Un Certain Regard. Das Drama um ein Transmädchen, das davon träumt, eine Ballerina zu werden, wurde auf der eine Seite für seine einfühlsam beobachtete Hauptfigur gelobt, auf der anderen aber – u.a. für eine reißerische Drehbuchwendung – auch stark kritisiert. Diese Stärken und Schwächen sind nun auch im Nachfolger „Close“ auszumachen. Er handelt von einer tiefen Freundschaft zwischen zwei 13-jährigen Jungen, die von den Normen der heterosexuell geprägten Gesellschaft mit Argusaugen betrachtet wird. 45 Minuten ist das sehr genau und subtil beobachtet, bevor eine ebenso radikale wie problematische Drehbuchwendung den Film in eine völlig andere Bahn lenkt.

    Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) kennen sich schon immer und sind die besten Freunde. Praktisch jeden wachen Moment verbringen sie zusammen, toben über die Felder, erfinden Geschichten, übernachten mal bei den Eltern des einen, mal des anderen Jungen. Doch nun kommen sie in die Mittelschule, werden mit neuen Kindern konfrontiert, die ihre enge Freundschaft irritiert. „Seid ihr zusammen?“, fragt ein Mädchen unschuldig. Aber dieser Satz verändert alles. Zum ersten Mal wird Leo mit einer Gruppe konfrontiert, die seine Freundschaft zu Remi als etwas anderes wahrnimmt, als was sie jahrelang war. Zunehmend gehemmt distanziert sich Leo immer mehr von Remi, der nicht versteht, warum sich sein Freund von ihm abwendet. Und dann kommt es zur Katastrophe…

    Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) werden in der neuen Schule mit einer anderen Sicht auf ihre Freundschaft konfrontiert.

    Welch grandiose erste Dreiviertelstunde! Schon fast als Stummfilm inszeniert Lukas Dhont die Freundschaft zwischen den beiden 13-Jährigen, zeigt sie auf den Feldern, die ihre Eltern bewirtschaften, beim gelösten Fahrradfahren, beim Schlafen, wo Leo und Remi so eng beieinanderliegen, als wären sie Brüder. Doch diese Unschuld wird bald vorbei sein – weniger durch etwas, das tatsächlich vorfällt, als durch kleine Bemerkungen und Blicke, durch das unbestimmte Gefühl, etwas zu tun, etwas zu sein, das nicht ganz „normal“ ist.

    Mit größtem Einfühlungsvermögen schildert Dhont den langsamen Wandel Leos, seinen Wunsch, dazuzugehören, nicht nur zu Remi, der Klarinette übt, sondern auch zu den anderen Jungs auf dem Schulhof, die Raufen und Eishockey spielen. Wobei solche Kontraste zwischen den Jungs, also Klarinette gegen Eishockey,auch schon ein wenig andeuten, wie schematisch Dhont seine Geschichte bisweilen aufbaut, wie sehr er seine Dramaturgie einer gewollten Intention unterwirft.

    Der ganz große Knall

    Um nun weiter über den Film, seine Stärken aber auch Schwächen schreiben zu können, ist es notwendig, in das Territorium nach dem Twist vorzudringen. Also Achtung, Spoiler: Der Bruch, der „Close“ nach 45 zu einem ganz anderen Film macht, ist Remis Selbstmord. Wie genau er sich das Leben nimmt, bleibt offen, zu diesem Zeitpunkt hat sich die Perspektive der Erzählung ohnehin längst auf Leo konzentriert. Am Ende eines Schulausflugs, bei dem Remi nicht dabei war, erfährt er die Wahrheit und erstarrt. Trägt er selbst womöglich die Schuld an Remis Tod? Hat er seinen Freund durch seine Zurückweisung so sehr verletzt, dass Remi keinen anderen Ausweg mehr sah?

    Viele Fragen bleiben offen, vielleicht zu viele. So brillant es Lukas Dhont in den ersten 45 Minuten gelingt, den langsamen Prozess der Entfremdung zu schildern, so einfach macht er es sich in der zweiten Hälfte. Die ist zwar immer noch gut beobachtet, lebt immer noch von der bemerkenswerten Präsenz des jungen Hauptdarstellers Eden Dambrine, der hier in seiner ersten Rolle zu sehen ist, fühlt sich zugleich aber auch viel gewollter an.

    Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) werden in der neuen Schule mit einer anderen Sicht auf ihre Freundschaft konfrontiert.

    Schon in „Girl“ hat der Regisseur einen extremen Moment benutzt, um einen Punkt zu machen: Die Protagonistin schnitt sich den verhassten Penis irgendwann einfach selbst ab. Eine dramaturgische Entscheidung, die Dhont auch viel Kritik eintrug. Ähnliches könnte nun wieder passieren, gerade weil die Selbstmordzahlen bei Kindern, die homosexuell sind, deutlich höher liegen als bei heterosexuellen.

    Zwar wird offen gelassen, ob Leo oder Remi oder beide tatsächlich schwul sind, aber für Dhont, der selber offen schwul lebt, dürfte dies naheliegen. Realistisch und schmerzhaft authentisch beschreibt Dhont in der ersten Dreiviertelstunde das langsame Ende einer Freundschaft, um im zweiten Teil allzu sehr auf einen Schockmoment und seine Folgen zu setzen. Ein guter Film bleibt „Close“ zwar bis zum Ende, aber es hätte auch ein großartiger werden können.

    Fazit: Auf enorm einfühlsame Weise schildert Lukas Dhont in „Close“, wie eine heteronormative Gesellschaft die innige Freundschaft zweier 13-Jähriger zerstört und in eine Katastrophe stößt. Danach ist nichts mehr, wie es war – und auch der Film verliert seine große Klasse, selbst wenn er bis zum Ende sehenswert bleibt.

    Wir haben „Close“ auf dem Filmfestival in Cannes 2022 gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs gezeigt und mit dem Grand Prix (dem zweiten Platz hinter der Goldenen Palme) ausgezeichnet wurde.

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