Ein brillanter Titel für einen (zu) braven Film
Von Michael MeynsAuch Deutschland war eine Kolonialmacht. Eine Tatsache, die erschreckend vielen Menschen wenig bis gar nicht bekannt ist. Erst in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch die Eröffnung des Humboldt-Forums in Berlin, begann eine Diskussion um deutsche Kolonialverbrechen, Raubkunst und nicht zuletzt den Genozid, der Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Soldaten in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, verübt wurde.
Als erster deutscher Kinofilm nimmt nun „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume dieses Thema auf, was natürlich zunächst einmal absolut ehrenwert ist. Doch das historische Drama des „Das schweigende Klassenzimmer“-Regisseurs bewegt sich mit solcher Vorsicht durch die verminte Geschichte und ist dabei so sehr bemüht, alles richtig zu machen und politisch korrekt zu sein, dass am Ende vor allem die gute Absicht übrigbleibt.
Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) muss den erstaunten Berliner Studenten vorführen, dass auch „Wilde“ rechnen können.
Berlin, 1896. Vor den Toren der Stadt findet eine große „Völkerschau“ statt, bei der Menschen aus den deutschen Kolonien ausgestellt - oder vielmehr: zur Belustigung vorgeführt und buchstäblich vermessen – werden. Der junge, ambitionierte Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) will die Gelegenheit nutzen, um mehr über die Hereros und Namas, die Bewohner*innen der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, zu erfahren. Durch die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), die in einer Missionsschule Deutsch gelernt hat, lernt er die Afrikaner*innen kennen – und erkennt dabei, dass sie gar nicht so anders sind als die Weißen.
Eine Erkenntnis, die gegen die Ansichten der Zeit geht. Auch Hoffmanns Vorgesetzter an der Uni, der renommierte Professor von Waldstätten (Peter Simonischek), warnt seinen jungen Kollegen, dass dieser seine Karriere aufs Spiel setzt, wenn er solche Thesen öffentlich vertritt. Acht Jahre später bekommt Hoffmann die Gelegenheit, selbst nach Afrika zu reisen. Aber statt dort weiterforschen zu können, muss er miterleben, wie die deutschen „Schutztruppen“ den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts verüben – und auch er selbst sich schuldig macht…
In „Der Staat gegen Fritz Bauer“ beschäftigte er sich mit der äußerst schleppenden Aufklärung der NS-Verbrechen, in „Das schweigende Klassenzimmer“ erzählte er vom Widerstand in der DDR – und nun nimmt sich Lars Kraume in „Der vermessene Mensch“ einem weiteren dunklen Fleck der deutschen Geschichte an: den deutschen Kolonialverbrechen. Ein ebenso wichtiges wie großes Thema, das natürlich auch nicht ansatzweise in einem einzelnen Film abschließend behandelt werden kann. Die Frage, vor der ein deutscher Filmemacher im Jahre 2023 da zunächst einmal steht, ist eine moralische: Aus welcher Perspektive kann man einen Film über ein Verbrechen von Weißen an Schwarzen überhaupt erzählen? Wie den Notwendigkeiten der politischen Korrektheit genügen, um keinen Shitstorm zu riskieren?
Ursprünglich hatte Kraume geplant, Uwe Timms Roman „Morenga“ als Vorlage zu nehmen. Doch Timms Tatsachen-Roman, der bei seinem Erscheinen 1978 noch bahnbrechend war, nimmt größtenteils die Perspektive eines Anführers der Hereros ein. 2023 als weißer Autor und Regisseur die Perspektive einer schwarzen Figur, selbst einer heroischen, einzunehmen, erschien Kraume dann offenbar doch zu heikel. Angesichts der in den letzten Jahren aufgekommenen Diskussion um die Rückgabe von Tausenden Totenköpfen, die aus Afrika den Weg in deutsche Museen gefunden haben, verfiel Kraume stattdessen auf die Idee, stattdessen aus der Perspektive eines Ethnologen von dem Völkermord zu erzählen.
Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) lebt auch deshalb wie die Made im Speck, weil er den Mächtigen nur die (pseudo-)wissenschaftlichen Erkenntnisse präsentiert, die sie hören wollen.
Der brillante doppeldeutige Titel „Der vermessene Mensch“ deutet es bereits an: Es geht um jene wissenschaftliche Disziplin, die im 19. Jahrhundert aufkam und behauptete, durch das scheinbar ganz objektive Vermessen des Menschen, vor allem seines Kopfes, Rückschlüsse auf seine Intelligenz und sonstige Fähigkeiten ziehen zu können. Ein abstruser Irrglaube, der direkt zum Rassenwahn der Nazis führen sollte. Auch Alexander Hoffmann arbeitet in diesem Bereich, will ihn jedoch zu Beginn nicht zur Bestätigung des westlichen Rassismus einsetzen, sondern im Gegenteil zeigen, dass die Hereros und die Namas keineswegs einer minderen Rasse angehören.
Dass er mit dieser Ansicht Ende des 19. Jahrhunderts auf Widerstand stößt, ist kein Wunder – und so wirkt diese fiktive Figur auch wie aus der Zeit gefallen. Wenn Hoffmann etwa sagt, dass Rassen ein Konstrukt und eigentlich alle Menschen gleich seien, dann wirkt er eher wie ein Zeitreisender aus dem 21. oder gar 22. Jahrhundert, oder anders gesagt: wie ein Drehbuchkonstrukt.
Und so geht es weiter: Im Bemühen, auch den zwischen 1904 und 1908 verübten Völkermord an den Hereros und Namas, bei dem bis zu 60.000 Menschen ums Leben kamen, in den Film einzubauen, wird Hoffmann als Teil einer Expedition nach Afrika geschickt – wo er seine Seele und seine Moral verliert. Zunehmend wird er zum Teil des Systems, überschreitet Grenzen, um – so zumindest begründet er seine Haltung vor sich selbst – der Wissenschaft zu dienen und der Dolmetscherin hinterherzujagen, von der er in seiner gönnerhaften Arroganz glaubt, eine tiefere Verbindung aufgebaut zu haben. Doch diese Figur bleibt ebenso ein Konstrukt wie zu vieles in einem Film, dem stets anzumerken ist, alles richtig machen zu wollen: Es gibt finstere deutsche Generäle und korrupte Soldaten, das Wirken christlicher Missionare kommt erstaunlich gut weg, anders als die Wissenschaft, deren Korrumpierbarkeit zentrales Thema ist.
Alles interessante Ansätze, keine Frage, aller Ehren wert, aber am Ende allzu behäbig, um als Film zu überzeugen. Was nicht zuletzt – wieder einmal – an den allzu geringen finanziellen Mitteln liegt, die ein solcher Historienfilm in Deutschland meist nur zur Verfügung hat. Fast alle der wenigen Szenen, die etwa in Berlin spielen, sind Innenaufnahmen, ein Gefühl für Zeit und Ort entsteht so nur selten. In Namibia, wo der Hauptteil spielt, sorgen allein schon die Landschaften für eindrucksvolle Bilder, doch die deutschen Truppen bestehen aus kaum mehr als 25 Soldaten. Das Grauen eines Völkermordes lässt sich mit solchen Mitteln kaum in der nötigen Dimension darstellen, von den grandiosen Bildern, die etwa Edward Berger in seinem „Im Westen Nichts Neues“ dank eines Budgets von mehr als 20 Millionen Euro inszenieren konnte, ist „Der vermessene Mensch“ weit entfernt.
In ihrer Heimat ist Kezia vor allem daran interessiert, ein Massaker an ihrem Volk zu verhindern.
Hier sieht die Konfrontation zwischen in die Wüste getriebenen und damit zum Tode durch verdursten verurteilten Hereros und Namas dann so aus: Ein gutes Dutzend deutsche Soldaten bewachen aufgereiht in einer Reihe ein Wasserloch, im Hintergrund tummeln sich ein weiteres Dutzend Statisten, das wars. Ein wirkliches Gefühl für die Bedrohung durch die deutschen Truppen, von der durch sie ausgeübten Grausamkeit ganz zu schweigen, mag so nicht entstehen. Was von „Der vermessene Mensch“ bleibt, ist vor allem der gute Wille, der Wunsch, sich mit einem bislang kaum thematisierten dunklen Kapitel der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Der mögliche große Film über die deutsche Kolonialgeschichte und die mit ihr einhergehenden Verbrechen steht jedoch weiter aus.
Fazit: Es ist aller Ehren wert, dass sich Lars Kraume in „Der vermessene Mensch“ mit dem Völkermord an den Hereos und Nama beschäftigt. Dabei hat er jedoch (zu) wenig Geld für einen epischen Historienfilm zur Verfügung und erzählt zudem mit so großer Vorsicht und erkennbarem Bemühen, es allen Seiten recht zu machen, dass es am Ende vor allem beim guten Willen bleibt.
Wir haben „Der vermessene Mensch“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.