Amour Fou mit einem Hauch von Amélie
Von Christoph PetersenNach ihrem wunderbar konzentrierten und vielfach preisgekrönten Sundance-Hit „Wild“, in dem sich Lilith Stangenberg als mausgraue Sekretärin zunehmend in ihrer Obsession für einen Wolf verliert, legt Nicolette Krebitz mit ihrer vierten Regiearbeit nun ihr bisher ambitioniertestes Werk vor: Ihr Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ ist nämlich längst keine so geradlinige romantische Komödie, wie es der Titel vielleicht vermuten ließe. Stattdessen bekommen wir es in dieser energiegeladenen Hommage an das französische Kino trotz des humorvoll-leichten Tonfalls mit einer ausgewachsenen Amour Fou zu tun …
… und zwar so richtig mit einem unberechenbaren, schweigsamen jungen Delinquenten-Helden, wie man ihn seit der Nouvelle Vague nur noch selten gesehen hat. Abgeschmeckt mit einem Schuss des auch im Dunkeln sonnigen Surrealismus à la „Die fabelhafte Welt der Amélie“, der sich hier vor allem in den von der Protagonistin selbstgesprochenen Off-Kommentaren wiederfindet. Selbst wenn dabei nicht alle Elemente immer stimmig zusammenkommen, ist das Ergebnis auf jeden Fall sehr viel faszinierender und mitreißender als jener Film, den man sich ohne Vorwissen bei dem Untertitel „Das schnelle Alphabet der Liebe“ in seinem Kopf ausmalen würde.
Beim körperbetonten Sprachunterricht kommen sich Anna (Sophie Rois) und Adrian (Milan Herms) schnell näher.
Anna (Sophie Rois), einst eine berühmte Schauspielerin, wird inzwischen nur noch als Letzte-Minute-Ersatz für Radiohörspiele gebucht. Bei ihrem Nachbarn Michel (Udo Kier) steht sie deshalb schon mit einem ganzen Jahr Miete in der Kreide. Also nimmt sie widerstrebend an, als ihr Arzt sie bittet, einem Schüler den verschriebenen Sprachunterricht zu erteilen. Aber als Adrian (Milan Herms) dann vor ihrer Tür steht, erkennt sie ihn als den Dieb wieder, der ihr einige Abende zuvor auf der Straße die Handtasche entrissen hat.
Trotzdem schmeißt Anna ihren neuen Schüler nicht sofort wieder raus – stattdessen entwickelt sich augenblicklich eine ungeheure Anziehungskraft zwischen den beiden. Anna kocht für Adrian Suppe – und er stiehlt ihr als Dankeschön eine Luxushandtasche aus dem Kaufhaus. Als Adrian trotz neuer Motivation das Schuljahr nicht schafft, fliehen die beiden gemeinsam an die Côte d’Azur, wo sie sich mit Taschendiebstählen über Wasser halten…
Was Adrian an Anna findet, liegt auf der Hand – sie nimmt ihn ernst, ist liebevoll und eine zärtliche Hand auf der Schulter reicht ja bei Teenagern oft schon aus, um die entsprechenden Gefühle hervorzurufen. Andersherum ist es nicht ganz so offensichtlich, aber Anna reizt offensichtlich auch die dunkle, unangepasste Ader des jugendlichen Handtaschendiebs. Sie erkennt in ihm einen Star – und zwar einen, wie sie ihn vermutlich von früher kennt, einen jungen Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“ etwa (die Phrase „außer Atem“ wird später sogar in einem Off-Kommentar ausgesprochen, was sicherlich kein bloßer Zufall ist) …
… und so kommt es, wie es kommen muss: „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ entwickelt sich von der Berliner Liebesgeschichte zwischen (Sprach-)Lehrerin und Schüler zu einem waschechten (Nouvelle-Vague-)Kinoabenteuer – mit maskierten Dieben, millionenschweren Diamanten, dem Casino in Monte Carlo und Menschen, die unglaublich lässig Zigaretten rauchen. Wenn Anna ihrem Vermieter zu Beginn vom Handtaschenraub erzählt, fragt der gleich nach, ob sie sich da nicht nur eine Geschichte ausgedacht habe – und der Verdacht bleibt, dass auch die Reise nach Monaco nur eine Projektion all der Kinoklassiker ist, an die sie bei ihrem „Star“ Adrian denken musste. Aber wie dem auch sei – es ist ein wilder, rebellisch-romantischer Ritt, der jederzeit mitreißt.
In den engen Gassen Monacos stiehlt das (Ganoven-)Pärchen gleich reihenweise Tourist*innen die Geldbörsen.
Egal ob sie in einem Tonstudio einen übergriffigen Kollegen zusammenfaltet, ihrem neuen Schüler Sprachunterricht erteilt oder mit einer Maske aus Zeitungspapier Tourist*innen die Brieftaschen zockt – Sophie Rois („Drei“) dominiert trotz des stellenweise etwas süßlichen Off-Kommentars nach Belieben die Leinwand. Newcomer Milan Herms („Drübenland“) kann in seiner ersten Kinohauptrolle hingegen das ausgeprägt Theaterhafte seines Spiels nur selten abstreifen. Außerdem spielt er – im Gegensatz zu den präsenzgetragenen Nouvelle-Vague-Vorbildern seiner Figur – immer eine Nummer drüber, vielleicht um seiner Leinwandpartnerin etwas entgegenzusetzen? Aber das wirkt dann doch oft eher angestrengt als cool.
Fazit: Nicolette Krebitz liebt offensichtlich das französische Kino – und nimmt uns mit auf ein wild-romantisches Abenteuer, auf dem Sophie Rois so lässig-elegant Zigaretten raucht, wie es sonst nur Jean-Paul Belmondo vermochte.
Wir haben „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.