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    Der Obrist und die Tänzerin
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der Obrist und die Tänzerin
    Von Ulrich Behrens

    Da steht sie, in dem großen Saal, vor einem Spiegel. Alle schauen ihr zu, und den anderen Mädchen in ihrem Alter, die nun ihre erste Vorführung als Balletttänzerinnen vor Eltern und Verwandten haben. Da steht sie ohne Schuhe. Ihre Zehen wippen leicht, fast unmerklich auf und ab, vielleicht aus Nervosität, vielleicht auch aus Stolz, jetzt zeigen zu können, was sie gelernt hat. Sie heißt Laura (Marie-Anne Verganza). Ganz in Rot gekleidet strahlen ihre großen dunklen Augen. Laura hat ihre eigene Musik mitgebracht, zu der sie tanzen wird. Als sie beginnt, schaut – gerade noch rechtzeitig gekommen – ihr Vater zu, der Polizist und ehemalige Anwalt Agustin Rejas (Javier Bardem) hinter der Glasscheibe vor dem Saal. Nein, er schaut ihr nicht einfach zu. Er sieht hin. Seine Tochter beginnt zu tanzen, schwingt elegant ihre Arme und Beine, die ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, vor allem die ihre Vaters. Seine Tochter! Ihre Mutter Sylvina (Alexandra Lencastre) sitzt in den Zuschauerreihen. Agustin ist an den Augen deutlich abzulesen, was in ihm vorgeht. Da, seine Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, die Lebendige, die Schöne, die Grazile, als wenn die Kunst, die Liebe und die Hoffnung zu tanzen begännen.

    So endet John Malkovichs erste Regiearbeit „The Dancer Upstairs“ – mit einer der wundervollsten Szenen der Filmgeschichte, einer von Wundern und Wunden vollen Geschichte, der nach dem Roman Nicholas Shakespeares (der auch das Drehbuch schrieb) gefilmten Geschichte über die Auseinandersetzungen in einem anonymen südamerikanischen Staat zwischen der herrschenden Militärdiktatur und einer terroristischen Vereinigung, die durch brutale Anschläge das Land in Aufruhr versetzt. Hintergrund dieser Geschichte ist die Verfolgung und Festnahme des Anführers der peruanischen, maoistisch orientierten Gruppe „Leuchtender Pfad“ („Sendero Luminoso“), Abimael Guzmán.

    Der ehemalige Anwalt und jetzige leitende Polizist Agustin Rejas (Javier Bardem) wird beauftragt, einer Reihe von Anschlägen nachzugehen. Nicht nur, dass an allen möglichen Laternenmasten in der Hauptstadt des Landes tote Hunde aufgehängt wurden, denen Pappschildern mit der Aufschrift „Lang lebe Präsident Ezequiel“ umgehängt wurden. Weitere Terroranschläge folgen. Ein Junge betritt mit demselben Spruch ein Wahllokal und bringt eine Bombe zur Explosion. Ein einsamer Angler wird erschossen. Ein Hund mit einer Dynamitstange am Bein rennt in eine Menschengruppe. Ein Auto fährt in einen Markt und explodiert. All diese Anschläge nehmen Bezug auf eine ominöse Person namens Ezequiel (angelehnt an den biblischen Propheten Hesekiel). Agustin und General Merino (Oliver Cotton) vermuten zwar, dass eine terroristische Gruppe hinter den Anschlägen steckt; doch es gibt keine weiteren Erklärungen, politischen Manifeste oder ähnliches, die eine Identifizierung ermöglichen würde.

    Auch die Aussage eines Professors, der in einem Café mit seinen Studenten ein merkwürdiges Konglomerat aus Marx, Kant und Nietzsche zur letzten Weisheit erklärt und den man für verdächtig hält, bringt nicht viel weiter. Inzwischen wurden der Innenminister, seine Frau und einige andere Personen während der Aufführung eines modernen Theaterstücks ermordet. Wenig später tötet eine Gruppe von Schulmädchen auf offener Straße einen hochrangigen Militär. Dieser Anschlag führt Agustin, seine Kollegen Sucre (Juan Diego Botto) und Llosa (Elvira Minguez) in die Slums und zu einer Frau, die sie festnehmen und bei der sich einige Beweismittel finden. Allerdings hat der politisch einflussreiche Berater und Anwalt des Präsidenten Calderon (Luis Miguel Cintra) inzwischen dem Militär die Ermittlungen gegen die Terroristen übertragen und die Polizei damit kaltgestellt. Agustin kann lediglich ein Videoband vor dem Zugriff Calderons sicherstellen, auf dem sich Costa Gavras Film „Der unsichtbare Aufstand“, aber auch Aufnahmen des ominösen Ezequiel befinden.

    Trotzdem bleibt die Suche nach den Hintermännern des Terrors schwierig, die ihre Taten mit Feuerwerk über der Hauptstadt feiern. Auch der Priester aus Agustins Heimatdorf wurde inzwischen Opfer des Terrors. Und Calderon und sein Militärapparat lassen keinen Zweifel daran, dass sie mit gleicher skrupelloser Härte zurückschlagen werden. Die Mitglieder der Theatergruppe der Universität, die mit dem Mordanschlag auf den Innenminister nach Agustins Ermittlungen nichts zu tun hatten, lässt Calderon trotzdem ermorden. Mit Recht und Gesetz hat er nicht viel am Hut. Gleichzeitig lernt Agustin die Ballettlehrerin seiner Tochter Yolanda (Laura Morante) kennen, die sich ganz der Ausbildung der jungen Mädchen verschrieben zu haben scheint. Agustin ist von dieser schönen, geheimnisvollen, zuvorkommenden Frau fasziniert; er verliebt sich in sie, während seine Frau Sylvina (Alexandra Lencastre) vor all den Vorkommnissen in ihrem Land die Augen verschließt.

    Malkovich besetzte seinen Film – im Nachhinein muss man vielleicht sagen: glücklicherweise – nicht mit den Stars aus der Filmschmiede Hollywoods, sondern vor allem mit spanisch sprechenden Schauspielern. „The Dancer Upstairs“ erzählt die Geschichte um staatlichen und anti-staatlichen Terror vollständig aus der Perspektive des Polizisten Agustin, der seinen Anwaltsberuf an den Nagel hängte, nachdem er feststellen musste, wie ungerecht die Rechtsprechung in seinem Land ist und welche unterschiedlichen Maßstäbe sie anlegt, je nachdem, ob es sich um einen der wenigen Reichen oder der vielen Armen handelt. Die Entscheidung, Polizist zu werden und damit „näher“ an Recht und Gerechtigkeit zu sein, ist zweischneidig. Jede Entscheidung in den Zeiten des Terrors ist brüchig und ambivalent wie auch jede Handlung Agustins, im Grunde wie der ganze Film.

    Malkovichs Erstlingswerk wirkte auf mich wie ein Versuch, eine Probe, eine Annäherung, aber nicht im Sinne eines mehr oder weniger fehlgeschlagenen filmischen Projekts. Er versucht, die chaotische Situation, die aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt in einer sozial zerrissenen Gesellschaft resultiert, und das Denken und Handeln der darin handelnden Personen einzufangen, zu erhaschen. Keine dieser Personen ist eindeutig, homogenen, geradlinigen Verhaltens. Der ganze Film scheint kein homogenes Drama zu sein, sondern eine episodische, erzählerisch gebrochene Parabel. Agustin will Recht und Gerechtigkeit; er steht zwischen Fronten, die ihn erdrücken können – hier der ominöse Ezequiel, dort der staatliche Macht- und Militärapparat. Javier Bardem spielt diesen Agustin in einer Mischung aus Idealist und Pragmatiker, beides Haltungen, die in ihm verborgen sind, zu denen ihn aber auch seine Herkunft und seine Umgebung zwingen. Den Allmachtsansprüchen der Terroristen wie denen des Präsidenten und seiner Anhänger steht er fast hilflos gegenüber.

    Was „hat“ er? Seine Frau, deren größtes Problem ihre angeblich unförmige Nase ist, die sie operieren lassen will, und die die Augen vor der Wirklichkeit in ihrem Land verschließt, die ihre einzige Freude im Vortragen unmaßgeblicher Texte vor Freundinnen zu haben scheint. Eine Tochter, die Agustin wirklich alles bedeutet. Und dann ist da Yolanda, der Traum, die Liebe schlechthin, der er in der Dunkelheit beisteht, die sie nicht ertragen kann, die sich mit viel Wärme um die Mädchen in ihrer Ballettschule kümmert. Sein Kollege Sucre, der den Macho mehr oder weniger hilflos herauskehrt, seiner ganzen Arbeit eher zynisch gegenübersteht. Einen General, der weiß, was läuft, der auch weiß, dass Ezequiel langfristig nur eine Chance gehabt hätte, wenn er auf die skrupellosen Gewaltakte von vornherein verzichtet hätte, die nach dem Motto begangen werden: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

    Das „hat“ Agustin, der an Gerechtigkeit glaubt und an der Ungerechtigkeit verzweifelt. Dieses individuelle wie gesellschaftliche Chaos in einem Land, das an seinen sozialen Gegensätzen fast zu zerplatzen droht (das Beispiel Peru der 80er und 90er Jahre, eigentlich bis heute steht hier realistisch Pate), inszeniert Malkovich in einem eindrucksvollen Bilder-Puzzle, das sich durch tiefe und unvergessliche Einblicke in die erbärmliche Armut, die überwältigende Landschaft der Anden und in die Seelen der Figuren zugleich auszeichnet.

    Wenn ein armer Bauer während der Fahrt Agustins in sein Heimatdorf sagt: „He [Ezequiel] is every tick in every clock“, dann sind dies die spärlichen, aber in jeder Hinsicht zutreffenden Worte über ein Land, das durch und durch von Terror beherrscht wird. Ezequiel ist überall und nirgends, Ezequiel – mit Bart und dunkler Brille – ist nicht greifbar und doch allgegenwärtig. Dieselben Worte könnte irgendein hoher Politiker auch über den Präsidenten gesagt haben. „He’s every sun which refuses to set.“ Malkovich kennt keine Gnade mit seinem Publikum.

    Ein mehr als gelungenes Regiedebüt des Schauspielers und Regisseurs John Malkovich, eine zweistündige Irrsinnsfahrt durch den Schrecken des Totalitarismus und seiner gesellschaftlichen Strukturen und durch die Schönheit, die sich immer wieder einen Weg zu bahnen versucht, wie zarte, verletzliche Knospen, die sich durch den Asphalt mühen, durch Ritzen zwischen Häuserwänden, ein gelebter Alptraum, ein Film, der mich an ein ganz anderes Meisterwerk der Filmgeschichte erinnerte, an Apocalypse Now, an die Flussfahrt Captain Willards zu Colonel Kurtz. Malkovich zeigt mordende Kinder, Terroranschläge und andere Gewaltakte. Aber er bleibt bei der Geschichte und seinen Figuren. Die Gewaltakte beherrschen nicht den Film. Javier Bardem und Laura Morante waren eine ausgezeichnete Wahl für die Hauptrollen. Javier Bardem hätte nicht nur einen Academy Award für seine Rolle verdient.

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