Der passende Horror-Slasher für unsere Post-Lockdown-Gesellschaft
Von Jochen WernerAlles Begann im Jahr 1996 mit einer inzwischen ikonischen Szene: Während sie am Herd steht und Popcorn für einen Videoabend mit ihren Freund*innen macht, bekommt Casey Becker (Drew Barrymore) einen anonymen Anruf. Ein Fremder scheint zunächst mit ihr zu flirten, beginnt dann aber bald mit einem Horrorfilm-Quiz, in dem Casey, wie sich rasch herausstellt, um ihr Leben spielt. Sie kennt sich zwar recht gut aus, macht dann aber einen naheliegenden Fehler – und mit ihrem Tod in der Pre-Credit-Sequenz von „Scream“ begann eine zweite große Welle des Slasher-Kinos, zu deren größten Stars hinter der Kamera auch der Drehbuchautor des Films zählt.
Kevin Williamson ist nicht nur der kreative Kopf hinter den ersten beiden „Scream“-Filmen, sondern auch des ersten und vielleicht besten der unzähligen Rip-Offs der späten 90er-Jahre, „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“. Nach dem großen Erfolg seiner auf persönlichen Erfahrungen basierenden TV-Kultserie „Dawson's Creek“ sowie einigen Kinoflops verbrachte Williamson nun gut ein Jahrzehnt damit, diverse mehr oder weniger erfolgreiche Serien fürs amerikanische Fernsehen zu produzieren – bis jetzt: Mit „Sick“ erscheint nun der erste auf einem Originaldrehbuch von Williamson beruhende Film seit zwölf Jahren – und natürlich handelt es sich wieder um einen Slasher.
John Hyams braucht erstaunlich wenig, um ein brachiales Slasher-Feuerwerk abzufeiern!
In der Eröffnungssequenz spielt erneut ein Telefon eine Rolle. Aber da inzwischen ein Vierteljahrhundert vergangen ist und kaum noch jemand sein Handy vorrangig zum Telefonieren nutzt, klingelt es nicht. Stattdessen pingt der Messenger nur kurz und die todbringende Konversation nimmt per Chat ihren Lauf, während Tyler (Joel Courtney) an der Supermarktkasse wartet. Mit Abstand und OP-Maske, denn „Sick“ spielt im April 2020, also während des ersten Corona-Lockdowns. Natürlich ist das Toilettenpapier ausverkauft. Dass das bald nicht mehr Tylers Problem sein wird, ist wohl nicht zuviel verraten – und nach der Titeleinblendung lernen wir dann die tatsächlichen Protagonistinnen von „Sick“ kennen.
Parker (Gideon Adlon) und Miri (Bethlehem Million) sind beste Freundinnen und haben trotzdem recht unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man mit der viralen Covid-Bedrohung umgehen sollte: Während Parker eher entspannt ist, sorgt sich Miri um ihren Vater und besteht zunächst selbst zu zweit im Auto aufs vorschriftsmäßige Tragen der Masken. Nach dem positiven Test eines Bekannten wollen sie sich nun gemeinsam im luxuriösen Ferienhaus von Parkers Familie in Quarantäne begeben und dabei auch ein bisschen Party machen. Dass Parkers Exfreund DJ (Dylan Sprayberry) überraschend auftaucht, ist zwar nicht eingeplant, aber man arrangiert sich rasch auch zu dritt. Schwieriger wird es dann allerdings, als ein maskierter Killer das Trio zu terrorisieren beginnt…
Inhaltlich bleibt „Sick“ fortan, wie eigentlich fast jeder wirklich gute Slasher, recht reduziert. Eine überschaubare Anzahl an Protagonist*innen, ein – oder mehrere? – Killer, ein begrenzter Schauplatz, mehr hat es eigentlich noch nie gebraucht, um in diesem eher minimalistischen Genre einen starken, effektiven Film zu inszenieren. Mit John Hyams hat man überdies den perfekten Regisseur dafür gefunden. Der Sohn des großen Hollywood-Handwerkers Peter Hyams hat sich nämlich schon in unterschiedlichsten Genres als einer der vielseitigsten Genrefilmemacher der Gegenwart bewiesen. Nach ersten Schritten als Dokumentarfilmregisseur gelang Hyams mit drei Direct-to-Video-Filmen mit Jean-Claude Van Damme der Durchbruch als B-Actionregisseur – die Filme selbst waren allerdings so gut und so ungewöhnlich, dass sie den Rahmen dessen, was man in diesem Genre für gewöhnlich erwarten kann, komplett sprengten.
In einer gerechteren Kinowelt hätten Hyams diese Talentproben längst den Weg auf die große Kinoleinwand geebnet, wo er heute hochbudgetierte Actionblockbuster drehen würde. Stattdessen führte ihn sein Pfad erst einmal gen Fernsehen, wo er für TV-Sender oder Streaming-Plattformen Serien entwickelte, bis er dann mit dem Survival-Horrorthriller „Alone“ zum Spielfilmformat zurückkehrte und sich als Horrorregisseur profilierte. In der Inszenierung haben „Alone“ und „Sick“ tatsächlich viel gemeinsam – beide Filme verbinden einen sehr klassischen, reduzierten Horrorfilmplot mit einer brachial wuchtigen und atmosphärisch ungemein dichten Inszenierung.
Parker (Gideon Adlon) hofft auf Rettung – aber wer lässt sie zu Zeiten des Lockdowns einsteigen, wenn sie ihre FFP2-Maske auf der Flucht vor dem Killer verloren hat?
Eine solche ist man so aus den Verfilmungen von Kevin Williamsons Drehbüchern eher nicht gewohnt, ist dieser doch vor allem dadurch berühmt geworden, allerlei postmoderne Metaebenen und selbstironische Plotvolten ins Genre eingebracht zu haben. Hier treffen also eigentlich zwei sehr unterschiedliche Ideen vom Genrekino aufeinander, denen es aber gelingt, sich gegenseitig zu bereichern statt einander nur im Weg zu stehen. Und dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Coronavirus: Sicherlich kann man sich fragen, ob ein Horrorfilm mit satirischen Untertönen das richtige Genre ist, um die noch ziemlich frische Erinnerung an die Zeit der Lockdowns und die wütenden, die Gesellschaft zerreißenden Diskussionen um den richtigen Umgang mit dem Virus zu thematisieren.
Und eine Antwort, die man durchaus geben kann, lautet: Vielleicht ist es im Moment sogar das einzig angemessene Genre, muss sich doch der Horrorfilm traditionell weniger um Pietät oder Subtilität scheren als andere filmische Formen. Um den satirischen Aspekt kommt man eh nicht drumherum, wird sich doch mit zunehmendem Abstand zur Zeit der Lockdowns und AHA-Regeln der Blick für die kleinen und großen Absurditäten dieser Jahre zwangsläufig schärfen. Vielleicht ist „Sick“ in dieser Hinsicht – wie zuvor bereits die von Michael Bay produzierte Science-Fiction-Dystopie „Songbird“ – einfach ein Stück weit seiner Zeit voraus.
So wie jedenfalls die klassischen Slasher der späten 70er- und 80er-Jahre um Michael Myers und Jason Voorhees immer auch als die gespenstischen Fratzen des Reagan-Konservatismus lesbar waren, deren Sex- und Lustfeindlichkeit das endgültige Ende der hedonistisch-linken Hippiejahre markierte, so verleiht „Sick“ einem sicher nicht völlig aus der Luft gegriffenes Unbehagen Ausdruck, dass manche die Suche nach Superspreadern seit Pandemiebeginn mit etwas zu viel Freude betrieben haben. Bestrafungs- und Rachefantasien lagen ja in den letzten Jahren so einige in der Luft, und diesen nun symbolischen Ausdruck zu verleihen und sie stellvertretend auszuagieren, das gehört von jeher zu den historischen Aufgaben wie Vorrechten des Horrorkinos.
Fazit: Das Comeback des „Scream“-Autoren Kevin Williamson wird in der wuchtigen Inszenierung von John Hyams zum minimalistischen, aber cleveren Horror-Geheimtipp. Vor dem Hintergrund des ersten Corona-Lockdowns im April 2020 verbindet „Sick“ einen klassischen Genreplot mit gesellschaftskritischen Nuancen und wird so zu einem der besten Slasher seit Jahren.