Liebe Leser,
ich weiß, dass man in seiner Gastkritik keine Anmerkungen zu den anderen Rezensionen vornehmen, sondern sich ganz dem Film widmen soll. Das habe ich auch vor...nur kann ich es auch nicht unerwähnt lassen, wie sehr mich die anderen Kritiken irritiert und geärgert haben. Und da ein Film wie "Salò" zu den wenigen gehört, die es überhaupt wert sind, hart diskutiert zu werden, denke ich, sollte ein kleiner Kommentar zu den anderen Rezensenten erlaubt sein.
Als die Band "Wir sind Helden" 2003 ihren Kleinklassiker "Müssen nur wollen" veröffentlichten, las man im Internet immer wieder Kommentare der Art "Wer braucht denn solche Motivationshymnen? Die sollen doch lieber BWL studieren." Ich war angesichts dieser Kommentare immer sehr verunsichert: "Sind die Kommentatoren wirklich so blöd, die Ironie in diesem Song nicht zu erkennen? Oder war deren Kommentar vielleicht wiederum ironisch gemeint, und ich habe es nicht gemerkt?!" Genau den Gedanken hatte ich erneut, als ich die anderen Gastkritiken gelesen hatte.
Als ich begann, mir den Film Salò zum ersten Mal anzuschauen, plagte mich durchaus ein schlechtes Gewissen: Bin ich jetzt pervers? Stehe ich jetzt auf Folterpornos? Leihe ich mir als nächstes "Gesichter des Todes" aus oder gucke irgendwelche "Guinea Pig"-Filme? Doch nach einiger Zeit sollte sich mein schlechtes Gewissen aufgelöst haben. Denn, anders als befürchtet, war dieser Film nicht voyeuristisch. Wie der Titel "Salò ü le 120 giornate di Sodoma" bereits andeutet, handelt es sich um eine Verwebung eines historischen und eines literarischen Stoffes: Das Faschistenrefugium Salò wird als Projektionsfläche genommen, um einige Aspekte von "Die 120 Tage von Sodom" des Marquis de Sade wiederzugeben. Strukturell orientiert sich der Film an Dantes "Inferno", was durch die "Kreis"-Abschnitte deutlich wird.
Allein an dieser Grundkonstellation bemerkt man, wie komplex dieser Film aufgestellt ist und wie absurd etwaige Vergleiche mit Filmen wie "Hostel" oder "Saw" sind. Der Film geht aber schlussendlich noch einen entscheidenen Schritt weiter; Eigentlich ist es die Welt aus den Augen von PPP selber, die hier skizziert wird. Ich gebe zu, dass dies in der Tat sehr irritierend ist. Der Mann muss kurz vor seinem Tod wirklich mit der Welt abgeschlossen haben, wenn er tatsächlich ein dermaßen nihilistisches Weltbild hatte.
Im wesentlichen reflektiert der Film eine Welt, die einzig und allein durch Macht und Gewalt strukturiert und gelenkt wird. Das allein wäre ja nun ziemlich trivial...doch es ist die Art der Darstellung, die hier den Ausschlag gibt! PPP geht in schonungsloser Offenheit mit den "Stützen der Gesellschaft" ins Gericht, sei es Kirche, Justiz oder Staat und zeigt sie als verrohte und gleichzeitig hochkultivierte Zeitgenossen, die sich selbst als Elite definiert haben und den Rest ihrer Gefolgschaft als Gebrauchsgüter verwenden.
Was diesen Film so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass, anders als in der Realität, hier Hochkultur und Bestialität nicht sauber getrennt sind, sondern ohne Schutz aufeinander treffen...ja teilweise sogar in einem Raum zusammen sind und sich vermischen! Da werden zu Nocturnes von Chopin die widerlichsten Vergewaltigungsgeschichten erzählt, es werden Jugendliche sexuell missbraucht, während man über Wissenschaft debattiert und wenn gefoltert wird, dann wird nebenbei noch auf hohem Niveau philosophiert. Und wenn man schon Scheiße frisst, dann wenigstens mit Silberbesteck.
Was mich persönlich sehr beeindruckt hat, war die stilistische Kälte dieses Films. "Salò" den Vorwurf des Voyeurismus zu machen, kann ich persönlich in keinster Weise nachvollziehen. Die Gewalt- und Sexszenen sind wie in einer klinischen Studie: Brutal und distanziert. Wie gesagt: Dieser Film reflektiert eine außerordentlich negative Sicht auf die Welt. Man muss PPP nicht in allem Recht geben...ist es doch die Sichtweise eines Mannes, der von allem enttäuscht ist: Von der Korrumpierbarkeit von Kirche und Staat, von blutspuckenden Medien, von einer Kultur der (teilweise sehr subtilen) Gewalt, die Wirtschaft und Gesellschaft durchzogen hat und die Menschen in Herrscher und Beherrschte einteilt.
Wer denkt, das sei heuchlerisch oder plakativ, sollte sich fragen, wann er das letzte Mal eine Träne vergossen hat, als er von den grausamen Leiden afrikanischer Arbeiter gehört hat, die unter unvollstellbaren Bedingungen, Rohstoffe für die "Erste Welt" fördern.
Um nur ein Beispiel zu nennen.
Wer es noch genauer braucht: In dem Film gibt es eine Szene, in der nackte Menschen wie Hunde an der Leine durch kahle Steinflure gehetzt werden. 2004, fast 30 Jahre später, sah man fast exakt dieselben Bilder: Aus dem Abu Ghuraib-Gefängnis, wo zivilisierte Durchschnittsamerikaner, irakische Gefangene zu nackten Menschentürmen aufstapelten und sie als Hunde durch die Korridore haben kriechen lassen.
Man muss PPPs nihilistische Weltsicht nicht teilen. Aber "Salò" einfach unreflektiert als "voyeuristischer Schund" abzutun, sollte man bitte auch nicht.
In diesem Sinne.
Raging Penguin