Zum Sterben raus aus dem bisherigen Leben
Von Ulf LepelmeierOb in „Das Fremde in mir“ über eine Mutter mit starken postnatalen Depressionen, „Töte mich“ über eine Jugendliche mit Todeswunsch oder im preisgekrönten „3 Tage in Quiberon“ über ein aufwühlendes Interview mit Romy Schneider – Regisseurin Emily Atef erzählt in ihren Werken von Frauen in emotionalen Ausnahmesituationen. Sie skizziert Frauenfiguren, die mit dem eigenen Schicksal ringen, ihr Leben nicht mehr wie bisher meistern können und sich deshalb mit existenziellen Fragen auseinandersetzen. Dabei vermag die Regisseurin stets das Beste aus ihren Hauptdarstellerinnen herauszuholen. So zeigt nun auch Vicky Krieps in „Mehr denn je“ als sterbenskranke Frau, die ohne ihren Partner nach Norwegen aufbricht, eine ihrer besten schauspielerischen Leistungen. Sie berührt mit ihrem zurückgenommenen Spiel und bildet mit dem im Januar 2022 durch ein Skiunfall verstorbenen Gaspard Ulliel, der hier in einer seiner letzten Rollen zu sehen ist, ein eindrückliches Paar, das voneinander Abschied nehmen muss.
Bei Hélène (Vicky Krieps) wurde eine seltene, unheilbar Lungenkrankheit diagnostiziert, die sie und ihr Umfeld, allen voran ihren Partner Mathieu (Gaspard Ulliel), in eine schwere Krise stürzt. Die 33-Jährige fühlt sich von ihrem Partner, aber auch von Familie und Freund*innen missverstanden, kann die bemitleidenden Blicke und aufmunternden Worte nur noch schwer ertragen. Trost findet Hélène lediglich in den Blogbeiträgen des Norwegers Bent (Bjørn Floberg), der unter dem Pseudonym Mister von seinem Leben mit einer schwerwiegenden Erkrankung berichtet. Schließlich beschließt Hélène, ihrer Intuition zu folgen und ohne ihren besorgten Partner ganz allein von Bordeaux nach Skandinavien aufzubrechen. Sie möchte den inspirierenden Blogger persönlich treffen, der mit seinem Krankheitsschicksal scheinbar ohne Groll und Verzweiflung umzugehen versteht…
Hélène (Vicky Krieps) möchte alleine in Norwegen sterben - weit weg von ihrem Partner und ihrem bisherigen Leben.
Der deutsch-französischen Regisseurin Emily Atef geht es in „Mehr denn je“ nicht um den Sterbeprozess an sich, sondern vielmehr um den Umgang mit der klar vor Augen geführten Endlichkeit. Sie legt den Fokus ihres ruhigen Filmes, der sich mit überdramatischen Gefühlsausbrüchen zurückhält, auf die psychologische Ausnahmesituation eines Paares und auf die notwendige Akzeptanz von Krankheit und Tod. Dabei spielt das Drama fast komplett außerhalb von Krankenhausfluren. Die meisten Szenen finden gar in der sommerlichen Umgebung Norwegens statt. So wie die Protagonistin sich langsam mit ihrem Schicksal versöhnt, gewinnen die von Kameramann Yves Cape eingefangenen Bilder auch an Farbe und öffnen sich zusehends für die Schönheit der Natur. Die Enge und Düsternis der Innenräume im heimischen Bordeaux stehen dabei im Kontrast zu den im hellen Licht erstrahlenden Fjorden und bunten Holzhäusern.
Vicky Krieps („Der seidene Faden“) ist ein Glücksfall für Atefs intimen Film. In „Mehr denn je“ und „Corsage“, die beide im selben Jahr in Cannes ihre Premiere feierten, verkörpert die luxemburgische Schauspielerin mit ihrem Schicksal hadernde Frauen, die einen Weg aus ihrer Unzufriedenheit und Trauer suchen. Doch während Krieps in der Rolle der sich nach Bewunderung und Beachtung sehnenden Kaiserin Elisabeth insbesondere das Aufbegehren der sich eingeengt fühlenden Regentin imposant herausarbeitet, ist es in „Mehr denn je“ gerade ihre zurückgenommene Darstellung, mit der sie beeindruckt. Das Auf- und Abtauchen in den Wogen des Meeres fungiert bei Atef als Bildmetapher zum Ringen nach Atem und damit dem Leben oder auch dem Gedanken des möglichen selbstbestimmten Loslassens. Hier lässt sich eine weitere Parallele zu „Corsage“ feststellen, in der Kaiserin Elisabeth immer wieder in die Badewanne steigt und die Zeit stoppen lässt, die sie ohne Luft zu holen unter Wasser bleiben kann.
Einen Großteil des Films fällt es Hélène schwer, ihre eigenen Gefühle zu ordnen und kundzutun. Doch durch das nuancierte Spiel von Krieps wird ihre innere Zerrissenheit sowie auch die zunehmende Akzeptanz des eigenen Schicksals auch ohne Worte deutlich. Es wird verständlich, warum sie die altbekannte Umgebung, die für das Alltägliche, das Leben und Zukunftspläne steht, zunehmend betrübt, dass sie gut gemeinte aufmunternde Worte und Anteilnahme mehr herunterziehen als trösten. Doch auch für ihr bemühtes Umfeld, ob für ihre Mutter, ihren Partner oder Freunde ist der Umgang mit der tragischen Diagnose nachvollziehbarerweise äußerst schwierig. Herzzerreißend sind dabei insbesondere die Gespräche mit Mathieu, der Hélène nicht aufgeben kann und die Zeit, die ihnen noch bleibt, unbedingt mit ihr zusammen verbringen möchte. Wie sie die richtigen Worte sucht, um seinen Segen zu bekommen, allein nach Norwegen aufzubrechen, gleichzeitig ihren fürsorglichen Partner aber nicht verletzten möchte, ist herzzerreißend. Genauso wie intime Szenen, in denen Hélène sich eigentlich der Lust mit ihrem Partner hingeben möchte, aber dann keine Luft mehr bekommt und sich schließlich beschämt und frustriert abwendet.
Ihre aufkeimende Chat- und Zoombeziehung mit Mister bringt Hélène darauf, sich allein auf die Reise begeben zu müssen, um Abstand zu allem gewinnen zu können. Dieses Ansinnen ist für die Protagonistin wichtig und ihr Weg zu sich selbst wird feinfühlig gezeichnet, aber es hätte Mister als Beweggrund ihrer Reise sowie zunehmenden Konfliktpunkt mit ihrem Partner nicht unbedingt gebraucht. Während die vertrauensvolle Beziehung zwischen Hélène und Mathieu sehr lebensnah wirkt, kann die eingewobene Geschichte um Mister/Bent nicht wirklich überzeugen. Warum Hélène gerade in dem vor allem bildbasierten Blog Trost findet und sich von Bent so angezogen fühlt, dass sie unbedingt zu ihm aufbrechen muss, wird genauso wenig nachvollziehbar wie ihre emotionslose Reaktion, als sie den Mann endlich kennenlernt, der zwar wirklich inmitten der Natur in Norwegen lebt, aber ansonsten so gar nicht ihren Vorstellungen entspricht.
Im wahren Leben ist Gaspard Ulliel noch vor der Premiere des Films im Januar 2022 ums Leben gekommen.
In den gemeinsamen Szenen zwischen Krieps und Ulliel legen die beiden Darsteller eine grandiose Chemie an den Tag, die den Zuschauer die ungeheure Vertrautheit eines langjährigen Paares wahrnehmen lässt. Trotz der unausweichlichen Streitereien und Vorwürfe ist die liebevolle Beziehung zwischen den beiden greifbar und authentisch. Der herzzerreißende Abschiedsprozess zwischen kurzen Glücksmomenten, Trauer und Frustration, der den beiden bevorsteht, ist damit umso schmerzlicher…
Fazit: Mit einer eindrücklich mit sich selbst ringenden Vicky Krieps gelingt Emily Atef vor der sommerlichen Naturkulisse Norwegens ein einfühlsamer Film über das Sterben und Abschiednehmen.
Wir haben „Mehr denn je“ im Rahmen des Filmfest München 2022 gesehen.