Heilsames Wohlfühlkino mit der wie immer brillanten Isabelle Huppert
Von Kamil MollEtwa fünf Minuten dauert es, bis die wundervolle Isabelle Huppert in „Madame Sidonie in Japan“ das erste Mal ihre Signature-Miene ziehen darf: Am Flughafen von Osaka wird sie bei der Einreisekontrolle gefragt, ob sie beweisen könne, dass sie eine Schriftstellerin sei. Huppert beantwortet dies mit einem kurzen Hochziehen der Augenbrauen, die untere Lippe dabei angespannt, das Kinn leicht nach vorne gereckt. Wie lässt sich etwas beweisen, dass man nicht mehr ausübt? Sidonie reist nach Japan, weil dort ihr erster Roman, „Die Silhouette“, nach vielen Jahren wiederveröffentlicht wurde. Ihr Verleger, Kenzo (Tsuyoshi Ihara) überredet sie dazu, eine Lesereise zu veranstalten, doch Sidonie stimmt nur zögerlich zu.
Der Autounfall ihrer Eltern und ihres Bruders bot einstmals die Grundlage für dieses erste Buch. Jahre später kam auch ihr Ehemann Antoine (August Diehl) bei einer Autofahrt um – ein schwerwiegendes Ereignis, das Sidonie selber zwar körperlich heil überlebt hat, seitdem sie aber nicht mehr weiter schreiben kann. Diese Rahmung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit durch Todesfälle ist es, die es ihr schwer zu machen scheint, an die Anfänge ihrer Laufbahn zurückzukehren. Aber auch das Leben ihres Verlegers ist von Verlust geprägt: Kenzos Vater überlebte als einziger in seiner Familie die Atombombenabwürfe auf Hiroshima, sein Bruder und dessen Frau starben Jahrzehnte später beim Erdbeben von Kobe. In Sidonies Romanen erkennt er seine eigene Trauer wieder.
Beschwert mit so viel traumatischem Gepäck hätte „Madame Sidonie in Japan“ leicht ein schwerfälliges Melodram über die Annäherung zweier emotional Versehrter werden können. Umso erfreulicher ist es, dass Regisseurin Elise Girard diese Geschichte stattdessen als leichte, bisweilen sogar zum Komödienhaften neigende Romanze erzählt. Zu verdanken ist dies insbesondere Isabelle Huppert („Elle“), die ihre Rolle so spielt, wie sie zuletzt auch immer wieder in den Filmen des großen koreanischen Regisseurs Hong Sang-soo (zuletzt in „A Traveler's Needs“) auftrat: eigensinnig verspielt und konzentriert ernsthaft zugleich. Ihr nervöses, schnelles Tippeln hinter dem ihr von Kenzo abgenommenen Rollkoffer sowie der immer wieder neu aufflammende Kampf mit einem Hotelfenster, das sich bei Hitze nicht aufmachen lässt, ansonsten aber zu den unpassendsten Gelegenheiten von selbst aufspringt, sind mustergültiges Material für eine Culture-Clash-Komödie.
Gleichwohl verzichtet der Film auf ein allzu wohlfeiles Aushandeln kultureller Unterschiede, begleitet Sidonie viel mehr dabei, wie sie ihre neuartige Umgebung beobachtet, schaut ihr selbst beim Nachdenken zu. Es sei seltsam, dass ihr Japan eigentlich fremd sei, sagt sie einmal, denn sie meine Straßenzüge und Kreuzungen trotzdem wiedererkennen zu können. Auch die Fremde kann so zu einem Erinnerungsraum werden: Die gemalten Kraniche an den Wänden ihres Hotels erinnern Sidonie an die französischen Moore ihrer Kindheit, erwecken die rufenden Stimmen ihrer verstorbenen Familie.
Wie gekonnt Girard dabei die Balance zwischen mitfühlendem Drama und hintergründiger Komödie halten kann, zeigt sich in der zweiten Hälfte des Films: Als eine Art freundlich gestimmter Wiedergänger von Patrick Swayze aus „Ghost – Nachricht von Sam“ taucht da nämlich Antoine in Geisterform wieder auf, möchte Sidonie helfen, sich von ihren drückenden Verlusterfahrungen zu lösen.
Auch andere Elemente bekommen einen zunehmend übersinnlichen Ton, ohne ins Kitschige abzugleiten: Sidonie und Kenzo sitzen immer wieder gemeinsam auf dem Rücksitz eines Autos, das die beiden zu den Leseveranstaltungen bringt. Hinter der Rückscheibe ziehen dabei per Greenscreen entrückt und traumhaft-unwirklich Straßen- und Stadtansichten vorbei – das Auto, so scheint es, wird zu einem kleinen Raum ohne wirklich existierendes Außen, einem märchenhaften Ort der gemeinsam geteilten Intimität. Und tatsächlich ändert sich bei jeder weiteren Fahrt das Verhalten der beiden, die Art, wie sie miteinander reden, wie sich ihre Körper zueinander drehen. Aus dem Hinausstarren durch die Scheiben werden gegenseitig zugeneigte Blicke. Am Ende erzählt „Madame Sidonie in Japan“ so von einem langen Abschied, aber auch von einer beginnenden Annäherung.
Fazit: In „Madame Sidonie in Japan“ erzählt Elise Girard gekonnt zwischen leichter Komödie und mitfühlendem Drama mit verspielten Geisterauftritten von einer Schriftstellerin, die bei einer Lesereise durch Japan lernt, sich von traumatischen Verlusterfahrungen lösen zu können.