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    Im letzten Sommer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Im letzten Sommer

    Ein Skandalfilm!?

    Von Michael Meyns

    Kann man in der heutigen Zeit überhaupt noch schockieren? Ist nicht ohnehin längst alles gesagt und gezeigt worden, gerade im Kino? Selbst die Affäre zwischen einer 50-jährigen Frau und ihrem 17-jährigen Stiefsohn, wie sie nun im Mittelpunkt von Catherine Breillats „Last Summer“ steht, hat kaum noch das Zeug zum Skandal. Konsequenterweise nutzt Breillat diesen Moment der Transgression dann auch nur als Ausgangspunkt für eine in den besten Momenten harsch sezierende Studie bourgeoiser Verhältnisse. Vor allem aber ist dieses Remake des erst vier Jahre alten dänischen Erotik-Thriller-Dramas „Königin“ das Porträt einer Frau, deren moralische Verfehlungen am Ende in vielem besteht, aber nicht unbedingt im Begehren eines Teenagers.

    Außerhalb von Paris lebt Anne (grandios: Léa Drucker) ein oberflächlich betrachtet bukolisches Leben: Sie sie erfolgreiche Anwältin für Familienrecht und verteidigt missbrauchte oder vergewaltigte Jugendliche. Mit ihrem deutlich älteren Mann Pierre (Olivier Rabourdin) bewohnt sie ein mondänes Haus mit großem Garten, fährt die beiden offenbar aus Asien adoptierten Töchter Serena und Angela zum Reiten und braust dabei mit ihrem Mercedes-Cabriolet durch die Gegend. Doch dann zieht Théo (Samuel Kircher), Pierres schwieriger Sohn aus erster Ehe, nach einem Vorfall in der Schule bei der Familie ein. Anfangs unnahbar und höchst nervig, schafft es Anne schließlich doch, Théo aus der Reserve zu locken – und beginnt eine Affäre mit ihrem Stiefsohn…

    Typisch französisch: Das Verhältnis zwischen einer 50-Jährigen und einem 17-Jährigen ist gar nicht das eigentlich Skandalöse!

    Manchmal wird aus einem Opfer eine Angeklagte“, erklärt Anne einer minderjährigen Mandantin, die vergewaltigt wurde. Eine Schuldumkehr werde die Verteidigung des Täters versuchen, das junge Mädchen als Schlampe hinzustellen versuchen, die das alles ja eigentlich auch gewollt habe. Anne kennt die Tricks, das Ringen vor Gericht, sie ist gut in ihrem Job. Dennoch kann diese Frau nicht an sich halten, als sie mit Théo ins Bett geht. 17 ist er, einerseits noch ein Kind, der ausgelassen mit seinen Stiefschwestern spielt, andererseits fast schon erwachsen, rauchend, trinkend, vögelnd. Für ihn scheint der Sex mit seiner Stiefmutter anfangs kaum mehr als ein aufregendes Spiel zu sein, die Transgression nicht weiter bemerkenswert. Anne jedoch weiß genau, was auf dem Spiel steht, was sie alles riskiert – und macht dennoch (oder womöglich gerade deshalb) weiter.

    Das Catherine Breillat nicht Nein sagte, als ihr zehn Jahre nach ihrem bisher letzten Film „Missbrauch“ die Möglichkeit angeboten wurde, den dänischen Erfolgsfilm „Königin“ von May el-Toukhy zu adaptieren, überrascht nicht. Um 2000 war Breillat schließlich noch als Skandalregisseurin verschrien, packte „heiße Eisen“ an, besetzte in „Romance“ und „Romance 2 - Anatomie einer Frau“ den Pornostar Rocco Siffredi, zeigte echte Erektionen auf der Leinwand. Nach schweren gesundheitlichen Problemen konnte sie in den letzten Jahren keinen Film mehr realisieren – und nun also doch noch das Comeback, eine weitere Studie über weibliche Lust, weibliche Begierde, aber auch weibliche Abgründe. „Last Summer“ hat seine stärksten, prägnantesten Momenten immer dann, wenn Breillat den komplexen, zerrissenen Charakter Annes beschreibt, nicht davor zurückschreckt, ihre Protagonistin als manipulativ und egoistisch zu zeigen, sie im selben Moment aber trotzdem nicht zu verdammen.

    Léa Ducker ist absolut grandiose – vor allem, wenn sie plötzlich in den eiskalt manipulierenden Verteidigungsmodus umschaltet.

    Stark etwa, wie Breillat kaum wahrnehmbar andeutet, das Anne als junges Mädchen, noch jünger als Theo heute, selbst vergewaltigt und so schwer verletzt wurde, dass sie selbst keine Kinder bekommen kann. Als Entschuldigung wird dies jedoch keineswegs in den Raum gestellt, vielmehr als Auslöser für Annes Beruf und ihren Wunsch, missbrauchten Kindern und Jugendlichen zu helfen. So emphatisch diese Anne aber im Umgang mit ihren Klient*innen, aber auch mit ihren Töchtern und ihrem Mann ist, so eiskalt agiert sie, als ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Wie sie reagiert, als Théo die Affäre öffentlich macht und seinen Vater einweiht, ist der absolute Höhepunkt des Films.

    Noch viel ambivalenter als die Anne im Originalfilm (dort gespielt von Trine Dyrholm) legt Léa Drucker ihre Figur an, lässt die zwar nicht inzestuöse, aber aus guten Gründen vollkommen unmoralische Attraktion für ihren Stiefsohn nachvollziehbar erscheinen, ebenso wie ihre Zerrissenheit ob dieser Anziehung. Wie diese Frau dann eiskalt ihre (auch berufliche) Erfahrung, ihr Wissen um die Manipulierbarkeit der Menschen ausspielt, darin liegt der eigentliche Missbrauch der Geschichte – und der wird von Léa Drucker („Close“) gleichermaßen brachial wie brillant auf die Leinwand geworfen…

    Fazit: Mit einer herausragenden Léa Ducker inszeniert Catherine Breillat mit „Last Summer“ einen vorgeblichen Skandalfilm. Aber die Affäre zwischen einer 50-Jährigen und ihrem 17-jährigen Stiefsohn ist nur der Ausgangspunkt für eine in den besten Momenten harte und genau beobachtete Studie bourgeoisem Verhaltens und einer Frau, die sich erst nimmt, was sie will, und dann alles tut, um ihr bürgerliches Leben zu verteidigen.

    Wir haben „Last Summer“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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