Lange mussten wir in Deutschland warten, um uns selbst ein Bild von Stephen Daldrys hochgelobter Kinoadaption von Michael Cunninghams bewegendem Roman „The Hours“ machen zu können, in dem auf kunstvolle Art und Weise das Schicksal dreier Frauen in drei verschiedenen Zeitepochen und ein Buch zu einer eng verwobenen Einheit verschmelzen. Cunninghams mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Werk galt eigentlich als unverfilmbar, da es von den inneren Monologen der Protagonisten lebt und diese auf der Leinwand nur schwerlich umzusetzen sind. Doch das Kunststück gelang, was weniger ein Verdienst von Drehbuchautor David Hare ist, sondern vielmehr das der grandiosen schauspielerischen Darbietungen jedes einzelnem in einem Cast, der die Crême de la Crême des amerikanischen Filmbusiness versammelt.
Virginia Woolfs Roman „Mrs. Dalloway“ steht im Mittelpunkt der Handlung, daher ist es angebracht, zunächst näher auf diesen einzugehen. Welchen Anspruch Virginia Woolf an sich selbst stellte, wird deutlich, wenn man weiß, dass sie James Joyce’ Meisterwerk „Ulysses“ als „primitives und ungebildetes Buch“ ansah. Mrs. Clarissa Dalloway, die Gattin eines Parlamentsabgeordneten, plant eine große Abendgesellschaft in ihrem Haus im vornehmen Londoner Stadtteil Westminster. Doch während der Vorbereitungen überlässt sie sich ihren Erinnerungen und Gedanken, die sich zu einem Gewebe aus zufälligen Begegnungen, Verabredungen und schmerzlichen Abschieden zusammenschließen. Dabei stellt sie sich zunehmend selbst die Frage nach dem Sinn des Lebens. Ist es noch lebenswert? Was habe ich bisher erreicht? Der Wunsch in ihr nach dem alles erlösenden Freitod wird immer größer… Wie kein anderes Werk wurde Woolfs „Mrs. Dalloway“ zu einem Symbol für die Emanzipation der Frau. Und auf eben jenem Meilenstein der Literatur basiert nun „The Hours“.
London, um 1920: Virginia Woolf (Nicole Kidman) ist eine begnadete Schriftstellerin, die allerdings wie viele geniale Köpfe mit ihrem eigenen Verstand zu kämpfen hat. Wahnvorstellungen machen ihr das Leben zur Hölle. Nachdem sie versucht hat, sich selbst das Leben zu nehmen, reißt ihr liebevoller Mann Leonard (Stephen Dillane) die Notbremse und zieht mit ihr aus der Großstadt aufs Land - in der Hoffnung, dass die Ruhe und eine permanente ärztliche Betreuung sich positiv auf den Zustand seiner Frau auswirken. Virginia jedoch fehlt das geschäftige Treiben der Großstadt. Zwar verbessert sich ihr gesundheitlicher Zustand, doch sie fühlt sich durch die Anwesenheit der Ärzte und Haushälterinnen bedrängt. Sie ist nicht mehr in der Lage, Freude am Leben zu empfinden. In dieser Phase beginnt sie mit der Arbeit an ihrem neusten Buch „Mrs. Dalloway“, in dem sie versucht, die Geschehnisse in ihrem Leben zu verarbeiten. Mit der Zeit wächst in ihr die Gewissheit (der Zuschauer erfährt dies bereits zu Beginn des Films), dass es für sie nur einen Ausweg aus ihrer hoffnungslosen Lage gibt.
Los Angeles, 1951: Laura Brown (Julianne Moore) hat alles in ihrem Leben. Ihr Mann, der Kriegsveteran Dan (John C. Reilly), liebt sie aufrichtig, sorgt für ihren Lebensunterhalt und ein kleines Häuschen am Stadtrand. Und doch fühlt sie sich einsam, denn Dan ist, obwohl ein Bemühen durchaus erkennbar ist, nicht in der Lage, auf die Gefühle seiner Frau einzugehen. Einzig ihr Sohn Richie (Jack Rovello) ist noch ein Fixpunkt in ihrem Leben, an dem sie sich aufzurichten weiß. Doch als sie hochschwanger „Mrs. Dalloway“ liest, werden ihr die Augen geöffnet. In ihr wächst die Erkenntnis, dass sie entweder ihre Familie verlassen muss oder sie letztendlich wie Virginia Woolfs Romanfigur Clarissa Dalloway enden wird.
New York, 2001: Nicht nur den Vornamen hat Clarissa Vaughan (Meryl Streep) mit Mrs. Dalloway gemeinsam. Zwar führt sie eine lesbische Beziehung, doch von dieser ist sie selbst nicht mehr überzeugt. Wie Laura Brown bietet ihr ihre Tochter Julia (Claire Danes) noch Halt, doch diese verschwindet aufgrund ihres Studiums immer mehr aus ihrem Leben. Glücklich ist sie nur noch dann, wenn sie sich mit mütterlicher Sorgfalt um ihre ehemalige Jugendliebe, den ebenfalls homosexuellen und aidskranken Richard (Ed Harris), kümmern kann. Dieser erkennt Clarissas Dilemma, versucht ihr die Augen zu öffnen und die Freude am Leben wieder zu vermitteln, bevor es für sie und für ihn zu spät ist.
Drei Frauen, drei verschiedene Zeiten, ein gemeinsames Schicksal - eine glaubwürdige Mischung aus Realität (Virginia Woolf und „Mrs. Dalloway“) und Fiktion (Laura Brown und Clarissa Vaughan), ein gutes Drehbuch, das die einzelnen Handlungsstränge harmonisch miteinander verbindet… Die Grundlagen waren bestens, da galt es für die Produzenten Scott Rudin und Robert Fox nur noch, die einzelnen Rollen zu besetzen, was ihnen ohne zu übertreiben, perfekt gelang. Von positiven Überraschungen (Claire Danes) über gewohnt solide Leistungen (Jeff Daniels und John C. Reilly) und Darbietungen auf höchstem Niveau (Meryl Streep und die für den Oscar als beste Nebendarstellerin nominierte Julianne Moore) ist alles geboten, doch es gibt zwei Darsteller, die alle anderen überragen: Ed Harris („Pollock", „A Beautiful Mind") und Nicole Kidman („Moulin Rouge", „The Others"). Charakterkopf Harris liefert ein Bild des Schreckens ab. Es scheint, als habe er zur Vorbereitung auf „The Hours“ vier Wochen lang keine feste Nahrung zu sich genommen. Sein Körper scheint aus nichts anderem zu bestehen als Haut und Knochen. Sein Anblick erweckt Mitleid, und doch ist er eine der starken Persönlichkeiten des Films. Er hat seine Prinzipien, nach denen er lebt und besitzt letztlich die nötige Stärke, um sein Leben so zu beenden, wie er es sich erwünscht. Nichts wirkt aufgesetzt, alles strahlt Natürlichkeit aus. Schon allein die persönlichen Opfer, die Harris im Vorfeld auf sich nehmen musste, rechtfertigten die Nominierung für einen Academy Award.
And the Oscar goes to… Nicole Kidman! Sie ist nach Ansicht der Oscar-Jury die beste weibliche Performance in einer Hauptrolle im Jahr 2002 gelungen. Eigentlich wollte sie die Rolle der Virginia Woolf überhaupt nicht mehr übernehmen, denn unmittelbar vor Beginn der Dreharbeiten zerbrach ihre Ehe mit Tom Cruise („Minority Report"). Sie sei, nach eigener Aussage unfähig, irgendeine Rolle zu spielen, sagte sämtliche Arrangements ab, nur aus „The Hours“ konnte sie nicht mehr aussteigen, da bereits alle Verträge abgeschlossen waren. Vielleicht ist gerade in dieser Tatsache ihre grandiose Leistung begründet. Sie steckte zum damaligen Zeitpunkt in einer ähnlichen Situation wie der Charakter der Virginia Woolf. Auch für sie brach damals eine Welt zusammen. Die Verzweiflung und Trauer um ihre persönlichen Probleme sind Kidman zu jeder Sekunde des Films deutlich anzusehen. Ihre Gefühle scheinen nicht gespielt, sondern durchweg echter Natur. Doch damit nicht genug: Wie Harris ist sie in „The Hours“ kaum wieder zu erkennen. Um Virginia Woolf ähnlicher zu sehen, ließ sie jeden Tag in einer zweistündigen Prozedur eine künstliche Nasenprothese aufsetzen. Ihre Haare stehen strohig wild in alle Richtungen und ihr Körper, der fleischgewordenen Traum vieler Männer, ist in die schäbigen Gewänder der Jahrhundertwende gehüllt. Sicherlich ist es fragwürdig, ob Kidmans Charakter die Hauptperson von „The Hours“ darstellt oder ob nicht vielmehr drei gleichberechtigte Frauen im Mittelpunkt stehen, doch da sie schon mal nominiert wurde, wäre alles andere als der Oscar für ihre Leistung ein Skandal gewesen. Löblich erwähnt werden muss noch die musikalische Untermahlung von Philip Glas („Die Truman Show") . Sie hält sich zwar immer dezent im Hintergrund und überlässt es den Schauspielern, die Gefühle ans Publikum zu vermitteln, doch durch den dezenten Einsatz tieftraurigen Moll-Harmonien werden diese Emotionen noch gezielt pointiert.
Was steht „The Hours“ zur Höchstbewertung im Weg? Vor allem zwei Dinge. Zum einen wäre zu nennen, dass eine Kenntnis des Romans „Mrs. Dalloway“ zwar nicht zwingend erforderlich ist, jedoch ohne das entsprechende Hintergrundwissen, insbesondere im Handlungsstrang der Clarissa Vaughan, viele Details nicht verstanden werden können. Der Autor dieser Zeilen muss gestehen, dass er einige Zusammenhänge erst bei den Recherchen zu dieser Rezension verstanden hat. Als zweites wäre noch anzuführen, dass in manchen Fällen weniger mehr gewesen wäre. Es ist zwar beeindruckend, wie das Backen eines Kuchens in den Charakteren den Wunsch nach dem Tod weckt, doch dem aufmerksamen Publikum hätten dies auch in der Hälfte der dafür verwendeten Zeit nahe gebracht werden können. Trotzdem (oder gerade deshalb) ist „The Hours“ großes Charakterkino, das sich Freunde des „intelligenten Films“ auf keinen Fall entgehen lassen sollten.