Netflix‘ großer Oscar-Favorit der Saison
Von Lutz GranertDiana Nyad ist eine Legende des Schwimmsports – und ein beeindruckendes Beispiel für einen unbeugsamen Willen. 1949 geboren, wollte sie an den Olympischen Spielen 1966 teilnehmen – doch eine Herzerkrankung machte ihre Pläne zunichte. Die offen lesbisch lebende US-Amerikanerin verlegte sich fortan aufs Marathonschwimmen: 1979 legte sie die 164 Kilometer lange Strecke von North Bimini Island auf den Bahamas nach Juno Beach, Florida in 27,5 Stunden zurück – Weltrekord! Nur eines wurmte die muskulöse Ausnahmeathletin auch Jahrzehnte später noch: 1979 war sie beim Versuch gescheitert, die gefährliche Meerenge von Havanna nach Key West zu durchschwimmen (Haie, Quallen und Stürme hatten ihr es aber auch nicht unbedingt leichter gemacht).
Ein Traum, der sie nicht losließ, weshalb sie es mit über 60 Jahren noch einmal wagte – und die 177 Kilometer lange Strecke beim fünften Versuch im Jahr 2013 ohne Hilfsmittel und ohne Haikäfig in knapp 53 Stunden nonstop erfolgreich bewältigte. Eine beeindruckende Leistung, die bereits im Dokumentarfilm „The Other Shore“ (2013) thematisiert wurde. Hollywood liebt solche Erfolgsgeschichten – kein Wunder also, dass bereits 2015 ein Skript für ein Nyad-Biopic auf der Blacklist für die besten bisher unverfilmten Drehbücher kursierte. Es dauerte jedoch noch ein paar Jahre, bis der Schwimmlegende nun ein filmisches Denkmal gesetzt wurde: Das packende Netflix-Biopic „Nyad“ feiert aber nicht nur die herausragende sportliche Leistung, sondern kommt darüber hinaus auch überraschend vielschichtig daher.
Diana Nyad (Annette Bening) will sich mit 60 jenen Lebenstraum verwirklichen, an dem sie als junge Frau noch gescheitert ist.
Kuba war für Diana Nyad (Annette Bening) schon seit Kindheitstagen ein magischer Ort. Jahrzehnte nach ihrer aktiven Karriere sucht Diana an ihrem 60. Geburtstag nach einer neuen Herausforderung – und besinnt sich auf ihren Lebenstraum: Sie hat es bisher nicht geschafft, die sogenannte Floridastraße zu durchschwimmen. Also überzeugt die ehrgeizige Athletin ihre langjährige Freundin Bonnie (Jodie Foster), sie zu trainieren. Zudem heuert sie eine Crew um den widerborstigen Seemann und Navigator John Bartlett (Rhys Ifans) an, um sie bei ihrem waghalsigen Unterfangen zu unterstützen. Doch die ersten Rückschläge lassen nicht lange auf sich warten: Im offenen Meer begegnet Diane unter anderem Würfelquallen, die ein gefährliches Nesselgift absondern...
Eine ewig lange Vorbereitung, penibel bis ins kleinste Detail eingeübte Routinen, gespanntes Warten auf den richtigen Moment – nur um dann trotzdem in den ersten Versuchen erst einmal zu scheitern – das kennen Jimmy Chin und Elizabeth Chai Vasarhelyi bereits aus „Free Solo“. In seiner oscaprämierten Dokumentation begleitete das Ehepaar den Extremkletterer Alex Honnold beim ungesicherten Erklimmen des El Capitan im Yosemite-Nationalpark. Kein Wunder also, dass das Regie-Duo bei seinem Spielfilmdebüt nicht nur zahlreiche Fernsehausschnitte und Archivmaterial von Diana Nyads Rekordversuch mit eingebunden hat, sondern auch sonst großen Wert auf die realistische Zeichnung sportlicher Motivation sowie ihrer Schattenseiten legt.
So wirkt der unerschütterliche Ehrgeiz der Sportlerin, den man auch als Egoismus auslegen kann, zunehmend negativ auf ihre Crew, die sich beim Verwirklichen eines mutmaßlich bereits geplatzten Lebenstraums mit einem voll Wasser laufenden Kahn oder angriffslustigen Haien herumschlagen muss. Annette Bening („American Beauty“) lässt diesen Widerspruch in ihrer Performance zum Glück auch zu. Mit beeindruckender Vielseitigkeit ringt sie der Titelfigur zwischen mal verbissener und motivierter, mal resignierender Sportlerin, tougher Unternehmerin und verletzlicher Frau mit Missbrauchserfahrung verschiedene Facetten ab. Mit verlebtem Teint und sonnengegerbter Haut kommt sie der realen Nyad auch optisch nahe.
Bonnie (Jodie Foster) steht ihrer Freundin immer bei – selbst wenn deren sportliche Motivation mitunter auch arg an der Grenze zum puren Egoismus kratzt…
Um die Charakterzeichnung stimmig abzurunden, implementierten Chin und Vasarhelyi Flahbacks aus Nyads Kindheit – mit einer auffälligen optischen Spielerei: Ein Prisma bricht das Licht auf die Bilder der Vergangenheit und lässt Episoden aus dem Familienleben und dem Schwimmtraining in Teenagertagen (Auf-)Flackern. Das Setting von „Nyad“ ist auch mit konkreten Zeit- und Ortsangaben um größtmöglichen Realismus bemüht, da kann das Dokumentarfilm-Paar nicht aus seiner Haut – umso deutlicher werden subjektive Wahrnehmungen herausgestellt. Das zeigt sich während der vielen packend inszenierten Schwimmszenen etwa bei den arg künstlich anmutenden Halluzinationen einer fantastischen Unterwasserwelt (von denen die reale Nyad mal in einer Talkshow von Ellen De Generes berichtete).
Jodie Foster („Das Schweigen der Lämmer“) bleibt als Nyads Trainerin, Freundin und Motivatorin Bonnie Stoll ein etwas kleinerer, dabei jedoch auch undankbarer Part. Zwar findet sie mit ihrer pragmatischen Anpacker-Art meist die richtigen Worte – besonders wenn ihre nur auf den nächsten Zug fokussierte Filmpartnerin auf offener See die Orientierung und die Kraft verliert. Hin und wieder spricht jedoch auch Nyads schlechtes Gewissen aus ihr, was zuweilen etwas zu plump wirkt. Von den männlichen Charakteren vermag einzig Rhys Ifans („Notting Hill“) als ebenso brummiger wie liebenswerter Seebär schauspielerische Akzente zu setzen.
Fazit: Um größtmöglichen Realismus bemüht, verbindet „Nyad“ einfühlsames Biopic und packenden Sport-Film zu einer stimmigen Einheit. Besonders Annette Bening beeindruckt in der Titelrolle mit einer durchaus oscarwürdigen Performance.