Netflix‘ großer Oscar-Film der Saison
Von Lutz GranertAm 28. August 1963 beteiligten sich etwa 250.000 Menschen am „Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit“, um für die Bürgerrechte der in vielen Teilen des gesellschaftlichen Lebens benachteiligten schwarzen Bevölkerung einzutreten. Die bis heute größte friedliche und gewaltlose Demonstration in der Geschichte der USA zog bis zum Fuße des Lincoln Memorial, auf dem zehn Redner*innen auftraten und zahlreiche Forderungen an John F. Kennedys Bürgerrechtspolitik formulierten. Der bekannteste unter ihnen war Dr. Martin Luther King, Jr., dessen berühmter Text „I Have A Dream“ zur Überwindung der Rassentrennung sich ins kollektive Gedächtnis einbrannte. Die Veranstaltung brachte den von Bürgerrechtsbewegungen erhofften Erfolg: Am 2. Juli 1964 trat in den USA der historische Civil Rights Act in Kraft, der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft untersagte.
Einer der wesentlichen Architekten der Demonstration war der offen schwul lebende Bürgerrechtsaktivist Bayard Rustin, der beim Marsch selbst aber nicht öffentlich in Erscheinung trat. Rustin war eine große, aber meist im Hintergrund agierende Persönlichkeit – ein idealer Filmstoff also, um nicht nur die eh bekannten Bilder der Reden selbst zu reproduzieren, sondern auch hinter die Kulissen zu blicken. So möchte man zumindest meinen. Das simpel „Rustin“ betitelte Netflix-Biopic feierte seine Premiere zum 60. Jahrestag des „Marsch auf Washington“ und wurde von Barack und Michelle Obama mitproduziert. Regisseur George C. Wolfe („Das Glück an meiner Seite“) lässt sich trotz der einnehmenden Performance von Colman Domingo sowie jeder Menge authentischem Zeitkolorit allerdings zu leicht vom Kern seiner Hauptfigur ablenken.
Großartiger Schauspieler: Colman Domingo bekommt für „Rustin“ endlich die Aufmerksamkeit, die er eigentlich schon lange verdient!
Im Juni 1963 verspricht US-Präsident John F. Kennedy in einer Fernsehansprache, sich stärker für die Gleichstellung der schwarzen Minderheit in den USA einzusetzen. Angestachelt von dieser Rede, plant Bayard Rustin (Colman Domingo) einen gewaltlosen, zweitägigen Marsch auf Washington – mit einer Beteiligung von mindestens 100.000 Menschen, um den Forderungen von Bürgerrechtsorganisationen noch einmal Nachdruck zu verleihen.
Angesichts seiner (über-)ambitionierten Plänen sind schwarze Bürgerrechtsorganisationen wie die NAAPC (National Association For The Advancement Of Colored People), die Gewerkschaften und auch sein langjähriger Weggefährte Martin Luther King (Aml Ameen) zunächst skeptisch. Doch die Planung des Groß-Events beginnt – und Rustin verguckt sich in den Baptisten-Pfarrer Elias Taylor (Johnny Ramey), was allerdings die Unterstützung durch die ebenfalls beteiligten Kirchenvereine gefährden könnte...
Colman Domingo verkörpert die Hauptfigur als ebenso streitbar wie wortgewandt, den großen Gesten dabei nie abgeneigt: Bei einem Streit in der Küche hält er trotz eines ausgeschlagenen Zahns auch die andere Wange hin, falls noch jemand zuschlagen will. Der „Fear The Walking Dead“-Star kommt dem realen Rustin auch optisch ziemlich nahe, wenn er dessen Gestus voll ausspielt – etwa bei einem großspurig-intellektuellen Flirt mit Elias in einer Bar. Es ist leicht zu verstehen, warum Domingo direkt nach der Premiere von „Rustin“ auf den Favoriten-Listen zahlreicher Oscar-Expert*innen einen weiten Sprung nach oben gemacht hat. Zugleich muss aber auch er sich der unglücklichen Dramaturgie des Films unterordnen: Gerade in der zweiten Hälfte zieht „Rustin“ seine Spannung nämlich immer weniger aus seiner eigentlich so vielschichtigen Hauptfigur. Stattdessen rücken zunehmend organisatorische Fragen in den Fokus – etwa nach dem Spendenaufkommen oder der Vermittlung zwischen den verschiedenen beteiligten Organisationen.
Nur wenn die Planung beim zähen Taktieren etwa um Frauenquoten bei den Kundgebungen ins Stocken gerät, streut Regisseur George C. Wolfe auch Schwarz-Weiß-Rückblenden aus Rustins bewegter Vergangenheit ein. Diese wirken jedoch halbherzig beziehungsweise fragmentarisch – so bleiben Rustins aus der eigenen Biografie erwachsenen Ängste, sein sich gegen die Herrschenden richtender Trotz und das Ringen mit seinen religiösen Wurzeln im Quäkertum insgesamt etwas unmotiviert. Das ist besonders schade, weil Julian Breece für sein gemeinsam mit Oscar-Preisträger Dustin Lance Black („Milk“) verfasstes Skript viele Stunden an Interviews mit Beteiligten aus der Bürgerrechtsbewegung im Dunstkreis von Bayard Rustin führte. Eigentlich hätte das dabei helfen sollen, der historischen Figur möglichst nahe zu kommen.
„Rustin“ holt seinen Protagonisten aus dem Schatten und stellt ihn an die Seite von Bürgerrechtlern wie Martin Luther King Jr. oder A. Philip Randolph (links: Glynn Turman).
Wie ambitioniert „Rustin“ ist, lässt sich auch anhand der beteiligten Prominenz ableiten: Das Medienunternehmen Higher Ground Productions von Michelle und Barack Obama kümmerte sich um die Finanzierung, Lenny Kravitz steuerte mit „Road To Freedom“ einen eigenen Song bei, CCH Pounder („Avatar 2“) und Comedian Chris Rock („Spiral“) in einem ungewohnt ernsten Part agieren in Nebenrollen. Auch das authentische 60er-Jahre-Zeitkolorit sowie der konsequente Jazz- und Big-Band-Soundtrack sind stimmig. Einzig: Der Funke will aufgrund der stets etwas fremd bleibenden Hauptfigur nicht so recht überspringen.
Fazit: Es ist ein großer Verdienst, dass mit „Rustin“ auch eine im Hintergrund agierende Persönlichkeit der US-Bürgerrechtsbewegung näher beleuchtet wird. Mit der (zu) engen Verquickung mit dem „Marsch auf Washington“ stülpt sich das ambitionierte Netflix-Biopic aber ein unnötig einschränkendes Korsett über, was „Rustin“ daran hindert, seinem Protagonisten wirklich gerecht zu werden.