Eine Mary-Poppins-Geschichte der etwas anderen Art
Von Janick NoltingEtwas hat sich festgebissen und will nicht mehr gehen. Regisseur Lorcan Finnegan und Autor Garret Shanley eröffnen ihren neuen Film gleich mit groteskem Ekelhorror: Die Designerin Christine (Eva Green) trifft da hinter den Kulissen einer Modenschau auf einen übel zugerichteten, mit Zecken übersäten Hund, der munter sein Fell schüttelt. Einer der Blutsauger heftet sich an Christines Nacken und wird ihr Leben verändern. „Nocebo“ gibt seinem Publikum damit schon früh das zentrale, vieldeutige Schlüsselbild für ein herausragendes Mystery-Puzzle an die Hand.
Nach der grauenvollen Begegnung mit dem Hund und einem traumatischen Anruf wird Christine von eigenartigen Symptomen geplagt. Immer wieder verkrampft sich ihre Hand, ihr Gedächtnis weist Lücken auf. Auch ihr Ehemann (Mark Strong) und ihre Tochter (Billie Gadsdon) können nur hilflos Christines Verfall zusehen. Bloß gut, dass eines Tages die philippinische Haushaltshilfe Diana (Chai Fonacier) vor der Tür steht, um der Familie unter die Arme zu greifen…
Christine (Eva Green) versucht wirklich alles, um ihrer – nur eingebildeten? – Erkrankung beizukommen.
Es ist beachtlich, wie gekonnt Lorcan Finnegan und Garret Shanley das Spiel mit verschiedenen Genres beherrschen. Alles kommt in „Nocebo“ zusammen: Mystery, Psychothriller, Satire, Spukgeschichte, Folk- und Körperhorror. Ihr Film glänzt im einen Moment mit herrlich garstigem Humor, im nächsten verwandelt er sich in einen surrealen Strudel aus Wahnvorstellungen, Rachefantasien und wundersamen Erscheinungen.
Um an diesem Genremischmasch Gefallen zu finden, muss man sich von einem hochgradig durchkonstruierten Vexierspiel verführen lassen. Finnegan und Shanley reizen in „Nocebo“ ihr fantastisches und unzuverlässiges Erzählen nämlich bis zum Äußersten aus. Sie entwerfen ein ähnlich vertracktes Erzähllabyrinth wie in dem kafkaesk angehauchten Vorgängerwerk „Vivarium“, auch wenn man die Auflösung theoretisch früh erahnen kann. Immer wieder werden Trennlinien zwischen übersinnlicher Mystik und psychologischem Drama verwischt. Man verliert sich nicht nur in der getrübten Wahrnehmung von Eva Greens Protagonistin, sondern auch in den Geheimnissen ihrer Gegenspielerin.
Was will diese Frau, die sich wie eine unheimliche Version von Mary Poppins in den Familienalltag schleicht? Wer hat nach ihr bestellt? Einen Koffer voller kultischer Gegenstände trägt sie bei sich, um ominöse Rituale durchzuführen. Auch sie scheint nachts von bösen Träumen verfolgt zu werden, die nun auf den Haushalt von Christine überspringen. Fragmentarisch eingeflochtene Rückblenden aus Dianas früherem Leben künden von Vertreibung, Gewalt und Ausbeutung. Jetzt hat sie die Traumata der Heimat mit nach England gebracht. Sie verwandeln ihr neues Zuhause in ein Spukhaus.
„Nocebo“ wagt damit zunächst eine unsichere Annäherung an das Religiöse und vermeintlich Irrationale. Plötzlich drängt es dort in den Alltag, wo man ihm zuvor keinen Platz zugewiesen hat. Während Christine mit ihrer Krankheit ringt und eine Pille nach der anderen schluckt, scheinen die Riten und alternativen Heilmethoden ihrer neuen Bediensteten Linderung zu verschaffen. Doch natürlich bleibt es nicht bei diesen Glückserlebnissen – die Regeln des Horrorkinos mögen bekanntlich selten Happyends.
Diana (Chai Fonacier) steht wie einst Mary Poppins einfach plötzlich vor der Tür – aber was führt sie wirklich im Schilde?
Wer schon einmal vom titelgebenden Nocebo-Effekt gehört hat, kann sich zusammenreimen, dass Nutzen und Schaden der gezeigten Therapieversuche fortwährend auf dem Prüfstand stehen. Was „Nocebo“ in seinem Psychoduell so eindrucksvoll gelingt, ist jedoch nicht nur das ambivalente Zweifeln, wer hier welche Motive verfolgt und welcher Sicht überhaupt zu trauen ist. Bemerkenswert ist auch, wie er sein verrätseltes Zeichensystem zu einer klaren politischen Haltung und polemischen Abrechnung verdichtet.
Vielleicht ist das etwas unnötig zerdehnt und versponnen ausgebreitet, obwohl doch eigentlich alles ganz klar strukturiert ist. Im Kern handelt „Nocebo“ von westlichen Wohlstandsblasen, in denen sich auch Christine und ihr Mann eingelebt haben. Das riesige Haus der beiden fängt die Kamera in wohligen Pastelltönen, scharfgezeichneten Oberflächen, Materialien und Strukturen ein. Mitunter könnten die Bilder aus Einrichtungskatalogen stammen. „Nocebo“ kreiert damit eine äußerst ungewöhnliche Horrorfilm-Ästhetik: Umso faszinierender und fiebriger erscheint die Diskrepanz zu dem Unbehagen, das sich in diese Heimeligkeit eingeschlichen hat und allerlei Schrecken ans Tageslicht befördert.
Die Heimsuchung, welche in diesem Fall Diana in den Haushalt trägt, enthüllt die ignorierten Kehrseiten der vertrauten Ordnung. Vom Rest der Welt hat man sich abgekapselt. Man nimmt naiv und freigiebig an raubtierkapitalistischen Wirtschaftskreisläufen teil. Reichtum wurde auf den Köpfen anderer erzielt. Sie solle sich gefälligst aus den Gedanken seiner Frau raushalten, droht Mark Strongs Figur der neuen Haushälterin. Deutlicher kann man die Verdrängungsprozesse der eigenen Lebenswirklichkeit kaum aussprechen.
Thematisch ist „Nocebo“ damit etwa von Bong Jon-hoos „Parasite“ gar nicht weit entfernt: Das Motiv des Parasitären erscheint nicht nur in den Horrorbildern von blutsaugendem Ungeziefer. Es drängt sich auch in den Prozessen des Einquartierens und im Durchspielen von Klassenzugehörigkeiten und Abhängigkeiten auf. „Nocebo“ erzählt davon in seinen ganz eigenen, sonderbaren Genremustern. Leider sind die Kontraste, die er dafür wählt, etwas schlicht gestrickt. Sie bedienen sogar ein Stück weit rassistisch geprägte Stereotype derer, die er eigentlich bestrafen will: materieller Besitz, Künstlichkeit und Ignoranz auf der einen Seite, fromme, gefühlsbetonte Naturverbundenheit und Bescheidenheit auf der anderen. Der Westen hier, die anderen Länder mit ihren exotischen Traditionen dort.
Nichtsdestotrotz fängt „Nocebo“ all die erzählerischen Verästelungen und Schichten irgendwann gekonnt auf und flickt sie auf spektakuläre Weise zusammen. In einem furiosen Finale kollidieren vollends Zeitlinien, Blickwinkel, verstörende Visionen und allzu realistisches tagespolitisches Grauen. Mit kreisenden, rauschhaften Kamerabewegungen lässt „Nocebo“ sein Publikum gemeinsam mit den Figuren taumeln – hinein in ein regelrechtes Fegefeuer der eigenen Schuld und der Verfehlungen eines ganzen Systems.
Fazit: „Nocebo“ mag zunächst etwas konfus in alle Richtungen des Horrorkinos ausschlagen, entpuppt sich dann aber als echter Geheimtipp. Ein so lustvoll verschachtelter und dennoch elegant inszenierter Genrefilm begegnet einem nicht alle Tage.
Wir haben „Nocebo“ bei den Fantasy Filmfest White Nights 2023 gesehen.