Another Woman In The Window
Von Christoph PetersenGerade erst ist auf Netflix „The Woman In The House Across The Street From The Girl In The Window“ erschienen. Die Mini-Serie mit Kristen Bell ist eine Parodie auf ein ganz spezielles, aber immer häufiger vorkommendes Sub-Genre von Psycho-Thrillern. Darin beobachtet eine eigentlich starke Frau einen Mord. Allerdings glaubt ihr zunächst niemand, weil sie a) süchtig nach Tabletten oder Alkohol oder beidem ist und b) an speziellen Angstzuständen oder einem fragmentarischem Gedächtnisverlust leidet. Berühmte Beispiele sind „Girl On The Train“ mit Emily Blunt und „The Woman In The Window“ mit Amy Adams als alkoholkranke Kinderpsychiaterin mit Agoraphobie, die in einem Fenster auf der anderen Straßenseite – vielleicht – einen Mord beobachtet.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es zunächst gar nicht so leicht, die Hauptfigur im neuen Thriller von Oscar-Gewinner Steven Soderbergh („Traffic“) sonderlich ernst zu nehmen: Angela Childs leidet seit einem Angriff ebenfalls an Agoraphobie, die sie darin hindert, auch nur einen Fuß vor die Tür ihres Lofts in Seattle zu setzen. Auch persönliche Besuche beim Zahnarzt fallen deshalb flach, weshalb sie inzwischen allerlei Tabletten schluckt. Die altbekannten Bausteine sind also alle da – und dann liefert „Jurassic Park“-Autor David Koepp dazu auch noch ein halbgares Skript, das sich zwar um einen mysteriösen Mord dreht, aber dennoch ohne jede Überraschung auskommt. Zum Glück rockt Zoë Kravitz („Phantastische Tierwesen 2“) ihre Rolle – und Steven Soderbergh steuert genügend visuelle Sperenzchen bei, um den Spannungslevel trotz fehlender Twists auf einem zumindest soliden Niveau zu halten.
Angela Childs (Zoë Kravitz) macht bei der Arbeit als Voice-Stream-Interpretin eine grausame Entdeckung.
Angela Childs (Zoë Kravitz) arbeitet als Voice-Stream-Interpretin für einen kurz vor dem Börsengang stehenden Technologiekonzern. Ihr Job ist es, die Spracherkennungsfähigkeiten des virtuellen Assistenten Kimi (quasi ein Amazon Alexa) zu verbessern, indem sie fehlgeschlagene Kommunikationsversuche analysiert und dem Algorithmus beibringt, wie er zukünftig besser reagieren soll. Oft geht es dabei nur um lapidare Dinge – zum Beispiel, dass in bestimmten Gegenden der USA „Kitchen Paper“ statt „Paper Towel“ zu Küchenpapier gesagt wird.
In einem der Soundmitschnitte klingt es jedoch ganz so, als ob gerade eine Frau attackiert wird – und tatsächlich erhärten weitere Nachforschungen Angelas Verdacht, dass dort sogar ein eiskalter Mord geschehen und als Audiofile festgehalten worden sein muss. Aber als sie sich mit ihrer Entdeckung an ihre Vorgesetzten wendet, bekommt sie zunächst nur die kalte Schulter gezeigt. Erst als Angela hartnäckig bleibt, kommt Bewegung in die Sache – und sie selbst schwebt plötzlich in höchster Lebensgefahr…
Es gab schon einige Covid-Filme auch aus den USA. Aber „Kimi“ dürfte nun die erste große Hollywood-Produktion sein, in der die Pandemie-Maßnahmen eine wichtige Rolle spielen, ohne dass der Plot in erster Linie von Corona handelt. So haben sich Angelas Angstzustände aufgrund der Lockdowns noch einmal massiv verschlimmert – und wichtige TV-Interviews gibt der Kimi-Erfinder (Derek DelGaudio) aus seinem Homeoffice, wo die schmückende Bücherwand nur eine geschickt ausgeleuchtete Kulisse ist, während sich drumherum all die schmucklosen Dinge stapeln, die man eben in einer herkömmlichen Garage erwarten würde. „Kimi“ hat einen extrem hohen Wiedererkennungswert – und selbst der Zustand, seine Wohnung nicht verlassen zu können, ist uns allen jetzt gerade wohl vertrauter als jemals zuvor.
Umso enttäuschender ist es, dass der zentrale Mystery-Plot so gut wie nichts hergibt. Alles ist genauso, wie es von Beginn an scheint – und die Hacker und Auftragskiller, die das Corporate America auf Angela loslässt, erfüllen ebenfalls alle Klischees, die man sich so vorstellen kann. Zumindest abgesehen von einem weiteren amüsanten Homeoffice-Moment, wo die Kamera von den zig Bildschirmen des Profi-Hackers zu seiner häkelnden Omi auf der Couch schwenkt.
Steven Soderbergh lässt die Handkamera ganz schön wirbeln – und erzeugt so gerade in den Szenen außerhalb von Angelas Wohnung eine angemessen ungemütliche Atmosphäre.
Trotzdem ist „Kimi“ keinesfalls langweilig – und das liegt neben der einnehmenden Performance von „The Batman“-Catwoman Zoë Kravitz vor allem an Steven Soderbergh, der auch diesmal wieder selbst die Kamera führt. Gerade wenn Amanda schließlich doch noch die Wohnung verlässt, experimentiert Soderbergh mit der sie begleitenden Handkamera extrem viel herum, um ihre Angst, ihren Schwindel und ihre Orientierungslosigkeit auch für das Publikum ein Stück weit greifbar zu machen – und das funktioniert über weite Strecken:
Man fiebert vielleicht der Auflösung des arg geradlinigen Plots nicht unbedingt entgegen – aber allein die Bilder der sich möglichst eng an den Wänden und weit weg von anderen Menschen durch Seattle bewegenden Amanda erzeugen ein mulmiges Gefühl, wie es sich für einen Psycho-Thriller gehört. Zudem ist das Finale wirklich extrem befriedigend – kein Wunder, dass sich ihr Nachbar (Devin Ratray) von gegenüber in der Szene als ein „Kevin“ entpuppt, denn wir mussten bei dieser erfindungsreich-blutigen Abwehr der vermeintlich übermächtigen Eindringlinge auch sofort an eine gewisse Kult-Komödie aus dem Jahr 1990 denken – nur diesmal eben sprachgesteuert statt selbstgebastelt…
Fazit: Die Power-Performance von Zoë Kravitz, die visuellen Spielereien von Steven Soderbergh und die vielen kleinen Corona-Beobachtungen am Rande machen „Kimi“ zu einem sehenswerten Thriller, selbst wenn das Skript in Bezug auf das zentrale Mord-Mysterium leider ohne auch nur die allerkleinste Überraschung auskommt.