Die produktive Illusionsbildung jenseits des Realitätsprinzips und der Realitätsprüfung, somit die Grundlegung und Anbahnung einer Empfänglichkeit für Fiktionales, welche Samuel Taylor Coleridge auf die bekannte Formel von der willing suspense of disbelief brachte, gilt weithin als Grundvorrausetzung für die Rezeption phantastisch-fiktionaler Darstellungen in Filmen oder der Literatur. Doch die Aufhebung der kritischen Distanz endet nicht für jeden Betrachter mit dem Abspann oder dem Buchrücken: Fans einiger bestimmter Medienprodukte haben Rituale entwickelt, um die Illusion in ihre eigene Wirklichkeit zu übertragen. “Star Trek” ist ein solches.
Als der Polizist und ehemalige Bomberpilot Gene Roddenberry im Oktober 1964 mit den Vorbereitungen zu "The Cage" - dem Pilotfilm zur TV-Serie "Star-Trek" - begann, konnte er wohl kaum ahnen, welche Religionsstiftung er damit anstoßen würde. 1966 startete das Raumschiff Enterprise zu seinem medialen Jungfernflug, zur abendlichen Prime time, aber als No-name-Produkt in Konkurenz zu mehreren erfolgreichen Sitcoms auf anderen Kanälen. Wegen des anfangs geringen Zuschauerinteresses wurde die Serie 1969 eingestellt. Der Star-Trek-Kult entwickelte sich erst, nachdem lokale Kabelkanäle die preiswert erworbenen Staffeln ins Programm hievten. Heute wird der Sternen-Kult weltweit von einer vielfachen Tausendschaft von Verehrern zelebriert, von Fans, die Spock-Darsteller Leonard Nimoy einmal als "Follower" bezeichnete, die einem „Star Trek“-Regisseur für den Filmtod ihres vulkanischen Idols schon einmal das eigene Ableben androhten und regelmäßig gewaltige Fantreffen - "Conventions" - organisieren, auf denen sie sich gegenseitig in ihrem Glauben an die Signifikanz des Science-Fiction-Opus bestätigen können.
36 Jahre ist das Raumschiff Enterprise inzwischen alt. Seine Original-Raumritter, der kommandoführende Heißsporn und intergalaktische Playboy Captain James Tiberius Kirk, und Mr. Spock, der Sarkasmen verschleudernden Logiker mit den spitzen Kultohren, sind längst unauslöschlich im Popkultur-Olymp verewigt, und selbst ihre Ablösung, sowohl beim Fernsehen als auch beim Film durch die "Nächste Generation" unter dem Kommando von Patrick Stewart alias Jean-Luc Picard, hat der Popularität des Franchise kaum Abbruch getan. Neun Kinofilme hat das Unternehmen “Der Weltraum – unendliche Weiten...” inzwischen hervorgebracht, sechs mit der alten Crew, einen siebten mit der Stabübergabe von Kirk an Picard und zwei weitere allein mit der Next-Generation-Besatzung. Fünf Jahre, nachdem sich die Serie mit “Generations” endgültig von den Originalen verabschiedete und Captain James Tiberius Kirk seine letzte Ruhe finden durfte, ist es auch für die zweite Garde an der Zeit, von der Kommandobrücke des populärsten Raumschiffs der Film- und Fernsehgeschichte abzutreten. In “Star Trek Nemesis”, dem zehnten Opus der Serie, geht auch die Crew um Picard, Riker und Data offiziell von Bord.
Regisseur Stuart Baird macht aus der Abschiedsstimmung von Anfang an keinen Hehl: Im Prolog geben sich Commander Riker und Schiffs-Beraterin Deanna Troi, die sich über mehrere Staffeln begehren, aber erst im neunten Film “Insurrection” kriegen durften, das Ja-Wort, Riker bereitet sich überdies auf die Übernahme eines eigenen Schiffskommandos vor. Auf dem Weg zu Deannas Heimatplaneten, auf dem die gesamte Crew nach den dortigen kulturellen Usancen die Trauung mitvollziehen soll (ohne Kleidung, welch ein unerträglicher Gedanke für Commander Worf!), wird die Enterprise unverhofft von einer als kurzes Cameo auftretenden Kate Mulgrew alias Admiral Kathryn Janeway zum Hauptstadtplaneten der Romulaner beordert. Der dortige Regierungschef Shinzon, erst kurz zuvor durch einen Putsch an die Macht gekommen, bietet der Föderation einen Friedensvertrag an. Doch kaum auf die Zentralwelt des sternenföderalen Erzfeindes herabgebeamt sieht sich die Besatzung der Enterprise mit einer unangenehmen Überraschung konfrontiert: Shinzon ist mitnichten Romulaner, sondern ein zunächst vom romulanischen Geheimdienst zur Infiltrierung der Föderation gezüchteter, anschließend dann aber auf den Zwillingsplaneten Remus abgeschobener und dort aufgewachsener Klon Picards, und dessen Pläne mit dem Schiff seines genetischen Vaters und seiner Besatzung sehen alles andere als freundlich aus.
Das ungeschriebene Gesetz der Star-Trek-Serie postuliert, dass nur geradzahlige Filme von akzeptablem Nutz- und Unterhaltungswert seien. Beim zehnten Leinwandflug des bekanntesten Raumschiffs diesseits des Andromeda-Nebels ist dies allerdings nur eingeschränkt der Fall. Zwar kann der Film mit einigen recht gelungen Weltraumsequenzen und wie immer durchweg ausgezeichneten schauspielerischen Leistungen aufwarten, vergibt jedoch beim Drehbuch eine Menge Potential. Es stört wenig, dass “Nemesis” kaum versucht, etwas bahnbrechend Neues zu kreieren, dazu ist die Grundausrichtung des Prinzips Star Trek ohnehin viel zu wertkonservativ. Der Plot setzte auf Bewährtes. Keine Überraschungen, keine Unabwägbarkeiten, keine Experimente. Die Losung, die schon Ray Davies von den Kinks ausgegeben hat, gilt auch hier: “Give the people what they want”, womit das zehnte Star-Trek-Oevre einen deutlichen Schritt zurück hinter die Grenzen macht, die der furiose, außerordentlich düstere “First Contact” vor sechs Jahren zog. Geradezu lehrbuchartig exerziert “Star Trek Nemesis” den Katalog an Plotelementen durch, den der routinierte Star-Trek-Konsument aus unzähligen TV-Folgen kennt: Das Auffangen geheimnisvoller Funksignale, die Stippvisite auf einem unbekannten Planeten voller unfreundlicher Bewohner, die Landung auf dem Planeten der Romulaner und die anschließende Konfrontation mit dem Gegenspieler. Die philosophische Dimension, die vielen Star-Trek-Folgen insbesondere der “Next Generation” innewohnte, wird allerdings zugunsten einer ungewöhnlich action-lastigen Inszenierung aufgegeben, was den Film leider viel von dem Tiefgang vermissen lässt, der viele frühere Filme und TV-Episoden auszeichnete.
Gerade das war und ist es aber, was der landläufige Trekkie so sehr an seiner Lieblingsserie schätzt: Mal von Subraum-Anomalien umschwirrt, mal im Ereignishorizont gefangen, hat es den diversen Mannschaften der verschiedenen Raumschiffe Enterprise in den vergangenen 36 Jahren nie an Anlässen gemangelt, all jene Probleme zu wälzen, die seit ihrem Anbeginn die Menschheit beschäftigen und bis in alle Zeiten Teenagern selbst am entferntesten Ende der Galaxis schlaflose Nächte bereiten dürften: die Fragen nach dem Woher und dem Wohin, nach Moral, nach der Freiheit der Entscheidung, dem Abwägen zwischen Anpassung, Selbstbestimmung und Erfolg, nach Werten wie Freundschaft und Vertrauen, Ehre und Loyalität, nach Emotionen wie Liebe und Hass. Speziell die “Next Generation”-Episoden gerieten mit ihren geistvollen Reflexionen Captain Picards zu Grundfragen der Ethik oftmals zu 45-minütigen Philosophie-Unterrichtseinheiten. “Nemesis” wirkt dagegen wie ein lautes, etwas unfertiges Patchwork der früheren “Star Trek”-Filme, wie der Versuch, die gelungensten Momente aus den vorangegangenen Sternenabenteuer zum Abschied der Next-Generation-Crew noch einmal zu einer möglichst eindrucksvollen Enterprise-Vernissage zu arrangieren, quasi einem Star-Trek-Konzentrat. Der von den Romulanern angebotene Friedensvertrag erinnert zwangsläufig an “Undiscovered Country” von 1991, bei den Remanern und ihren makaberen medizinischen Plänen mit Jean-Luc Picard sind die Assoziationen zu den Borg aus “First Contact” (1996) und vor allem zu der zweiteiligen TV-Episode „Best of both worlds“ noch viel offenkundiger. Auch Rikers Kampf im unübersichtlichen Tunnelsystem der Enterprise mit dem Remaner-Kommandeur Viceroy (Fratzengesicht Ron Perlman in völlig unkenntlicher Latexmaskierung) wirkt wie eine abgespeckte Variante des Belagerungskriegs, dem das Raumschiff in “First Contact” durch das Eindringen der Borg ausgesetzt war.
Romulaner-Prätor Shinzon, der sich ein halbes Leben lang obsessiv auf die für ihn alles entscheidende Auseinandersetzung mit der Sternenförderation und im Besonderen deren Exponenten Jean-Luc Picard vorbereitet und trainiert hat, wirkt bisweilen wie eine jugendliche Ausgabe des rachsüchtigen Ricardo Montalban aus “Wrath of Khan”. Auch die gewaltige Raumschlacht zwischen der Enterprise und Shinzons Warbird erinnert an den zweiten “Star Trek”-Film, das tricktechnisch fulminant inszenierte Finale dagegen an den Crash der Enterprise aus “Generations”. Und dass sich schlussendlich ein Mitglied der Enterprise-Crew für das Überleben der Übrigen opfert, dient nicht nur als definitiver und unwiderruflicher Schlussstrich unter die Kino-Ära der Next Generation, sondern rekapituliert natürlich auch Spocks Tod aus “Wrath of Khan”. Für einige gelungene selbstironische Momente sorgt eine offensichtlich bei “Mad Max 2” entlehnte, für “Star Trek”-Verhältnis ungewohnt flott inszenierte Verfolgungsjagd auf einem feindlichen Planeten, die Stuart Baird just, bevor sie peinlich zu werden droht, mit einem Bond-Gimmick aus “Goldeneye” auflöst. Der Subplot um den auf selbigem Planeten aufgefundenen und auf der Enterprise aktivierten Doppelgänger Datas hingegen ist in seiner Unentschlossenheit ein einziges Ärgernis: Welche Möglichkeiten hätte das Motiv eines wirklich bösartigen Zwillingsroboters gegeben, erinnert man sich nur an den diabolischen Kirk aus der Episode “The Enemy Within”.
Darstellerisch wird das Geschehen wie schon in den beiden Filmen zuvor von der markanten Zwei-Mann-Show aus dem wie immer superben Patrick Stewart und dem ebenso souveränen Brent Spiner getragen, wobei der gerade einmal 25-jährige Tom Hardy als dämonischer, von Rache zerfressener Weltraum-Napoleon, dessen Wut über seine zerstörte Jugend im genetischen Vater Picard ihren Fokus gefunden hat, sich schauspielerisch mit eigenen Akzenten durchaus zu behaupten weiß, nur leider im letzten Drittel des Films mit grimmiger Miene auf der Kommandobrücke seines Schiffes zu harren hat und so vom Drehbuch kaum Gelegenheit bekommt, sich gegenüber den beiden übermächtigen Akteuren Stewart und Spiner auch nur annäherungsweise nach vorne zu spielen. Tricktechnisch zeigt sich “ Nemesis” zwar auf der Höhe der Zeit, prunkt aber nicht mit opulenten Schauwerten wie die Konkurrenz von George Lucas – den Wettstreit um die eindrucksvollsten Designs hätte das Star-Trek-Multiversum gegen die Jedi-Ritter ohnehin verloren. “Star Trek Nemesis” verbaut sich selbst zu viel, indem vor allem das ungeheure erzählerische Potential der Beziehung Picards zu seinem genetisch erzeugten Nachfahren weitestgehend auf ein erlesenes Dinner mit gediegen-stilvoller Konversation über Ethik und Weltraumphilosophie reduziert wird. Erst im Finale erhält das Duell zwischen dem alternden Space-Kommandanten und dem verlorenen Sohn, der sich aus Rache für die vermeintliche Zurücksetzung und das ihm vorenthaltene Glück erst zum Usurpator und dann zum Weltenzerstörer emporschwingt, ein wenig das Format eines Königsdramas, an dessen Ende sich Picard und Shinzon wie Artus und Mordred gegenüberstehen. Folgerichtig zitiert „Star Trek: Nemesis“ im Final Showdown zwischen den beiden ungleichen Kontrahenten die Schlussszene aus John Boormans „Excalibur“: Come, father, let us embrace at last!